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Ohne ein Wort

Ohne ein Wort

Titel: Ohne ein Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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dazu. Ist sie dir schon über den Weg gelaufen?«
    »Ja. Es war seltsam. Am liebsten hätte ich gesagt: ›Hallo, du wirst nicht glauben, wer ich bin.‹«

NEUN
    Am folgenden Wochenende fuhren wir zu Tess Berman, Cynthias Tante, die in einem bescheidenen Häuschen auf halbem Weg nach Derby wohnte, ein Stück abseits der von dichtem Wald gesäumten Derby Milford Road. Es waren nicht mal zwanzig Minuten mit dem Auto, aber wir sahen sie leider trotzdem nicht allzu häufig. Wenn sich also eine besondere Gelegenheit ergab, wie etwa zu Thanksgiving oder Weihnachten, ergriffen wir sie sofort beim Schopf. Und an diesem Wochenende hatte Tess Geburtstag.
    Ich fuhr gern mit. Tess bedeutete mir fast genauso viel wie Cynthia. Und zwar nicht nur deshalb, weil sie eine wirklich famose alte Dame war – wenn ich sie so nannte, warf sie mir gelegentlich einen lüsternen, wenn auch nicht ernst gemeinten Blick zu –, sondern nicht zuletzt, weil sie sich so aufopferungsvoll um Cynthia gekümmert hatte, nachdem ihre Familie verschwunden war. Sie hatte sich eines jungen Mädchens angenommen, das zuweilen ausgesprochen schwierig gewesen war, wie Cynthia selbst anstandslos einräumte.
    »Aber ich hatte ja keine andere Wahl«, hatte Tess mir einst anvertraut. »Sie war schließlich die Tochter meiner Schwester. Und meine Schwester war spurlos vom Erdboden verschwunden. Was hätte ich sonst tun sollen?«
    Tess wirkte stets ein wenig brummig, beinahe ungehalten, doch letztlich war das reiner Selbstschutz. Unter der harten Schale war sie butterweich. Und davon abgesehen hatte sie alles Recht der Welt, ein wenig bärbeißig zu sein. Ihr Mann hatte sie zwei Jahre bevor Cynthia zu ihr gezogen war, wegen einer Kellnerin aus Stamford verlassen; Tess’ eigenen Worten zufolge hatten sie sich irgendwohin an die Westküste verpisst, und Tess hatte nie wieder von ihnen gehört, Gott sei Dank. Bei der Radiofabrik hatte sie schon ein paar Jahre zuvor aufgehört; sie fand einen Job bei der Stadt, im Straßenbauamt, wo sie gerade genug verdiente, um sich über Wasser halten zu können. Es blieb kaum etwas übrig, um für ein junges Mädchen zu sorgen, aber Tess tat ihr Möglichstes. Sie selbst hatte keine Kinder, weshalb ihr Cynthias Gesellschaft nach dem Abgang ihres Tunichtguts von Ehemann durchaus willkommen war, so mysteriös und tragisch die Umstände auch sein mochten, die sie zusammengeführt hatten.
    Tess war inzwischen Ende sechzig und lebte von ihrer Sozialversicherung und einer kleinen Pension. Sie kümmerte sich um den Garten, verschönerte das Haus und unternahm die eine oder andere Busreise, wie letztens erst durch Vermont und New Hampshire, um dort das Farbenspiel der herbstlichen Wälder zu bewundern. Viele Freunde hatte sie allerdings nicht; sie war nicht besonders gesellig und hatte keine Lust auf Seniorentreffen.
    Uns aber sah sie gern. Ganz besonders Grace.
    »Ich habe in ein paar alten Bücherkisten gekramt«,sagte Tess, nachdem wir uns umarmt hatten und sie es sich in ihrem Fernsehsessel bequem gemacht hatte. »Seht mal, was ich gefunden habe.«
    Sie beugte sich vor, räumte eine Zeitschrift beiseite und reichte Grace ein großformatiges Buch: »Unser Kosmos. Eine Reise durch das Weltall« von Carl Sagan. Grace’ Augen wurden groß, als sie die Sterne auf dem Buchumschlag sah.
    »Das Buch ist schon ziemlich alt«, sagte Tess, als wolle sie sich dafür entschuldigen. »Fast dreißig Jahre, und der Autor ist auch schon tot. Im Internet findet man garantiert tollere Sachen, aber für den Anfang ist es gar nicht so schlecht.«
    »Oh, danke!«, sagte Grace, nahm das Buch und ließ es beinahe fallen, da sie nicht damit gerechnet hatte, dass es so schwer war. »Steht da auch etwas über Asteroiden drin?«
    »Bestimmt«, sagte Tess.
    Grace eilte nach unten in den Keller, um es sich auf der Couch vor dem Fernseher gemütlich zu machen, sich in eine Decke zu kuscheln und in dem Buch zu blättern.
    »Wie nett von dir«, sagte Cynthia, beugte sich zu Tess und küsste sie zum etwa vierten Mal seit unserer Ankunft.
    »Besser, als wenn ich’s weggeworfen hätte«, sagte Tess. »Wie geht’s dir, Schatz? Du siehst müde aus.«
    »Ach, alles okay«, sagte Cynthia. »Und wie geht’s dir? Du siehst auch leicht angeschlagen aus.«
    »Ach was«, sagte Tess und blickte uns über ihre Lesebrille an.
    Ich hielt die mitgebrachte Einkaufstasche hoch. »Hier, ein paar Kleinigkeiten für dich.«
    »Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte Tess. »Na,

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