Ohne ein Wort
möglichen Scheine.«
»Nur Geld? Keine Erklärung, keine Nachricht?«
»Doch, da war eine Nachricht.«
Sie erhob sich, ging zu ihrem antiken Sekretär mit Rollverschluss und öffnete die Schublade in der Mitte. »Ich habe den Kram beim Stöbern im Keller gefunden. Ich muss ein bisschen Ordnung schaffen, damit ihr nicht so viel Arbeit habt, wenn ich nicht mehr bin.«
In der Hand hielt sie etwa ein Dutzend Umschläge, die, zusammen etwa einen Zentimeter dick, von einem Gummiband zusammengehalten wurden.
»Sie sind alle leer«, sagte Tess. »Aber ich habe die Umschläge aufbewahrt, obwohl natürlich nichts draufsteht. Vielleicht sind ja Fingerabdrücke darauf, und das könnte eines Tages noch mal nützlich sein, oder?«
Höchstwahrscheinlich waren nur ihre eigenen Fingerabdrücke auf den Umschlägen, aber letztlich war ich kein Spurensicherungsexperte.
Tess zog ein Blatt Papier unter dem Gummiband hervor. »Das ist die einzige Nachricht, die ich erhalten habe. Zusammen mit dem ersten Umschlag. In denanderen war nur noch Bargeld, aber nie mehr etwas Schriftliches.«
Es handelte sich um ein ganz normales, leicht vergilbtes Blatt Schreibmaschinenpapier. Ich nahm es entgegen und faltete es vorsichtig auseinander.
Die Nachricht war in Großbuchstaben getippt. Ich las:
DIESES GELD IST FÜR CYNTHIAS AUSBILDUNG UND ANDERE AUSGABEN. ES KOMMT NOCH MEHR, ABER NUR UNTER FOLGENDEN BEDINGUNGEN: CYNTHIA DARF NIE DAVON ERFAHREN, UND AUCH NIEMAND SONST. KEINE NACHFORSCHUNGEN!
Und das war’s auch schon.
Ich las das Ganze dreimal, ehe ich wieder Tess ansah, die mir direkt gegenüberstand.
»Ich habe mich dran gehalten«, sagte sie. »Cynthia hat nichts erfahren, und ich habe auch nicht nachgefragt, ob jemand an meinem Wagen gesehen worden war. Das Geld kam immer völlig unerwartet. Einmal lag es abends vor der Haustür, eingerollt in eine Zeitung. Ein andermal war ich nur kurz zur Post gefahren, und als ich zum Auto zurückkam, lag da ein weiterer Umschlag.«
»Und du hast nie jemanden gesehen?«
»Nein. Wahrscheinlich bin ich beobachtet worden. Und nach dem ersten Mal habe ich das Beifahrerfenster immer einen Spalt offen gelassen, nur für den Fall.«
»Und wie viel Geld hast du insgesamt bekommen?«
»Zweiundvierzigtausend Dollar. Über einen Zeitraum von sechs Jahren.«
»Du meine Güte.«
Tess streckte die Hand aus. Ich gab ihr das Blatt Papier zurück, und sie steckte es zurück zu den Umschlägen, ehe sie das Bündel wieder in der Schreibtischschublade verstaute.
»Wann hast du zuletzt Geld erhalten?«, fragte ich.
Tess überlegte einen Moment. »Fünfzehn Jahre muss das jetzt her sein. Nachdem Cynthia mit ihrem Studium fertig war, kam nichts mehr. Aber das Geld war ein echter Segen. Sonst hätte ich das Haus verkaufen oder eine Hypothek aufnehmen müssen, um sie durchs Studium zu bringen.«
»Tja«, sagte ich, »aber von wem stammt das Geld?«
»Das ist die 42 000 -Dollar-Frage«, sagte Tess. »Ich habe sie mir selbst schon unzählige Male gestellt. Von ihrer Mutter? Ihrem Vater? Oder beiden?«
»Was bedeuten würde, dass ihre Eltern damals noch lebten – zumindest einer von ihnen. Aber wenn es ihnen möglich war, dich zu beobachten und finanziell zu unterstützen, wieso haben sie dann nicht direkt Kontakt mit dir aufgenommen?«
»Keine Ahnung«, sagte Tess. »Ich verstehe es auch nicht. Vor allem, weil ich immer der festen Überzeugung war, dass sie tot sind. Seit der Nacht, in der sie verschwunden sind.«
»Falls Sie wirklich tot sind«, sagte ich, »fühlt sich derjenige, der dir das Geld übermittelt hat, anscheinend verantwortlich für ihren Tod. Vielleicht handelt es sich um eine Art Wiedergutmachung.«
»Siehst du?«, sagte Tess. »Das Ganze wirft nur weitere Fragen auf. Nur weil ich das Geld bekommen habe, heißt das nicht, dass sie noch leben. Aber genauso wenig heißt es, dass sie tot sind.«
»Aber irgendetwas bedeutet es«, sagte ich.
Wir hörten, wie draußen ein Auto vorfuhr.
»Du musst selbst entscheiden, wann du Cynthia davon erzählen willst«, sagte Tess. »Über meinen Gesundheitszustand weihe ich sie sobald wie möglich ein.«
Eine Wagentür wurde geöffnet und geschlossen. Ich warf einen Blick aus dem Fenster und beobachtete, wie Cynthia zum Kofferraum ging.
»Ich muss erst mal drüber nachdenken«, sagte ich. »Ich wünschte, du hättest mir früher davon erzählt.«
Die Haustür wurde geöffnet; zwei Einkaufstüten in Händen, betrat Cynthia das Haus. Im selben
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