Ohne Kuss ins Bett
hier alles, deswegen müssen wir einen Teil davon ausreißen.« Sie sprach wie eine ärgerliche Erwachsene, und Andie dachte: Das hat Tante May gesagt .
Wieder trat Alice gegen die Pflanze, und ein zitronenartiger Duft stieg zu Andie auf. »Was ist denn das?«
»Zitronenmelisse«, antwortete Alice, und Andie stellte sich eine freundliche ältere Frau vor, wie sie sich hinabbeugte und genau in diesem gleichen freundlichen Ton »Zitronenmelisse« zu Alice sagte, was Alice mit einem weisen Nicken begleitete.
»Tante May kannte sich wirklich gut aus mit Pflanzen«, meinte Andie.
»Das sind alles Blumen, die die Schmetterlinge mögen.« Alice deutete auf eine hochstielige Blume, die wie ein riesiges, abgestorbenes Gänseblümchen aussah. »Becherblume.« Sie deutete auf eine andere. »Margerite. Gefleckter Schierling. Akelei. Leberblümchen. Zinnie. Salbei. Milchkraut. Pfefferminze. Aster. Sommerflieder.«
Sie wies dabei auf jede einzelne und nannte ihre Namen so liebevoll, wie Andie sie noch nie hatte sprechen hören. Dann bückte sie sich, riss eine große, hässliche, zerzauste Pflanze mit knolligem Stängel aus. »Unkraut«, stieß sie voller Abscheu hervor und warf die Pflanze beiseite.
»Das muss im Sommer wirklich sehr schön sein«, meinte Andie. Im Augenblick sah das Ganze mehr wie der Garten des Todes aus, abgesehen von den Astern.
»Die Schmetterlinge sind soooo schööön«, schwärmte Alice. »Schwalbenschwanz und Zitronenfalter und Pfauenauge. Wenn ich groß bin, werde ich Schmetterlingsforscher.«
»Das finde ich wirklich cool«, erwiderte Andie, und sie meinte es ernst.
Alice nickte und akzeptierte dieses Lob als selbstverständlich. »Und manchmal haben wir hier auch Hummeln, die sind auch cool. Tante May hat gesagt, wir könnten nächsten Sommer Hummelpflanzen …«
Sie verstummte, und Andie dachte: Autsch . Dann wandte sich Alice mit ausdruckslosem Gesicht von dem Garten ab und marschierte zur Decke zurück, wo sie sich hinplumpsen ließ, den Kopfhörer aufsetzte und ihr Buch in die Hände nahm.
Andie setzte sich neben sie. »Wir werden einen Hummelgarten anlegen, Alice. Entweder hier oder in Columbus. Egal, wo wir dann sind, wir werden auf alle Fälle einen Schmetterlings- und Hummelgarten haben. Und hier werden wir die Pflanzen für den Winter mit Mulch zudecken und warm halten.«
Alice zuckte die Schultern und öffnete ihr Buch.
Andie dachte: Ich muss North sagen, dass wir auch einen Hummelgarten brauchen . Dann schweiften ihre Gedanken wieder zurück zu dem, was sie seit der vergangenen Nacht verfolgte: das blaue Mädchen. Vielleicht hatte Alice diesen Traum mit ihrer Prinzessin-Alice-Geschichte ausgelöst, die sie jetzt jeden Abend weitererzählten. Alice korrigierte sie und bestimmte sie in ihrem Verlauf, und immer war die blaue Prinzessin mit dabei. Vielleicht hatte sie nur Alice ’ Geschichte geträumt …
Plötzlich stieg ihr ein ekelhafter Gestank in die Nase, und sie warf einen Blick zu Alice hinüber, die mit einem Stock in etwas herumstocherte. Als sie näher hinsah, erkannte sie einen toten, aufgedunsenen Frosch.
»Alice, hör auf damit, der ist tot.«
Alice nahm ihren Kopfhörer ab, und Andie wiederholte, was sie gesagt hatte.
»Nein, der sieht nur tot aus«, widersprach Alice. »Der ist schon okay.«
Sie stocherte wieder daran herum, da nahm Andie ihr den Stock aus der Hand, bevor sie den Frosch aufreißen konnte und Gott weiß was herauskäme. »Der ist tot«, bekräftigte Andie. »Lass ihn liegen.«
Alice blickte mit zusammengekniffenen Augen zu Andie auf. »Du weißt auch nicht alles.«
»Bestimmt nicht. Aber dieser Frosch da ist tot.«
»Nein, ist er nicht«, beharrte Alice, ihr Gesicht verzerrte sich und sie begann zu schreien. »Nein, nein, nein, nein … «
Sie hatte sich abgewandt und wurde immer lauter, doch plötzlich brach sie ab und starrte über den Teich hinweg.
»Was ist?«, fragte Andie und starrte ebenfalls in diese Richtung.
Dort stand halb gebückt eine Frau, altmodisch in Schwarz gekleidet, und ihr mit Volants besetzter Rock hing trotz des Oktoberwinds reglos herab.
»Wer ist das?«, erkundigte sich Andie.
Alice fuhr herum und starrte Andie einen Augenblick lang mit vor Überraschung aufgerissenen Augen an.
»Alice, wer ist diese Frau da drüben?«
»Da ist niemand«, erwiderte Alice und beugte sich wieder über ihr Buch.
Andie blickte zu der Frau hinüber, die sich schwerfällig und langsam auf den Waldrand zubewegte.
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