Ohne Netz
Rezeptionist in einen Nebenraum, bringt das Verzeichnis und händigt es mir stumm aus.
Eigentlich müsste ich jetzt raus, New York am Freitagabend, Leben, ich komme! Aber ich bin erschöpft, verstört und zerknittert. Wenn ich schon nicht ausgehe, sollte ich allerdings wenigstens die schweren Vorhänge beiseiteziehen. Direkt unter meinem Fenster eine Riesenbaustelle, auf der rund um die Uhr Betrieb herrscht. Jetzt verstehe ich, warum die strenge Concierge vorhin gefragt hat, ob ich Ohropax wolle: Ich schlafe direkt neben Ground Zero. Ich erkenne das an den drei klopsigen Türmen auf der anderen Seite des Kraters, die haben sich mir während des Zehn-Stunden-Loops am 11. September ins Gedächtnis gefräst. Damals habe ich nonstop ferngesehen, die apokalyptische Schleife: qualmender Turm, zweites Flugzeug, Explosion, schreiende Menschen an Straßenkreuzungen, die Staubwolke, Pentagon, das Feld in Pennsylvania, zurück in die Staubwolke, der zweite Turm fällt. Die gesamte Feuilletonredaktion hing stumm vor dem Fernseher. Heute säßen wir währenddessen alle vor unseren Rechnern.
Der Ober, der mir am nächsten Morgen 25 Meter von Ground Zero entfernt im Frühstücksraum Kaffee und Orangensaft bringt, heißt Mohammed.
2. MAI
Herrliche Fahrt nach New Jersey raus, durch sanftes Gehügel, die Landschaft saugt den Frühling in sich auf und gibt ihn als grünes Leuchten zurück. Das einzige Problem: Ich müsste Jarretts Manager anrufen. Habe mir dafür extra ein moderneres Handy mit sogenanntem Triband ausgeliehen, weil man das in den USA braucht, aber es funktioniert nicht. In New York hängen mehrere Anzeigen für neue Smartphones. Alle betonen sie deren Geschwindigkeit oder besser: Dass sie einem dabei helfen, Schritt zu halten mit der enormen Geschwindigkeit unserer Tage. »Texting at hyperspeed«. Mir würde eine hyperlangsame Telefonzelle schon reichen, aber während sie bei uns erst auf der Roten Liste stehen, scheinen sie hier in Amerika schon endgültig ausgestorben zu sein. In dem kleinen Kaff, in dem Jarrett lebt, frage ich einen älteren Herren, ob es so eine Zelle noch gäbe, und er sagt, während er sich lachend die Baseballkappe in den Nacken schiebt und an einem braunen Furunkel auf seiner Stirn kratzt: »A phone booth? Ich glaube, die letzte Zelle habe ich in den Achtzigern gesehen.« Es scheint, als wolle das Schicksal, dass ich auch aufs Handy verzichte: Zweimal hab ich’s wirklich gebraucht, im Ruhrpott und hier. Beide Male streikt es. In Köln gab das Handy meiner Eltern den Geist auf, hier findet das ausgeliehene neue Ding kategorisch kein Netz.
In Jarretts Heimatort setze ich mich oberhalb des Friedhofs unter die Bäume und bereite mich auf das Gespräch vor. Plötzlich kommt Wind auf, ich sitze in umherfliegenden Zeitungsseiten und Pappbechern, schaue einem Rudel Blätter zu, das die Straße runterjagt, und genieße das Ganze, der wilde Wind und dazu dieses kurze jähe Wissen darum, dass man irgendwo auf dieser Erde sitzt, die sich als kleiner blauer Tropfen allein durchs leere All dreht, und überall sitzen und gehen Menschen umher und machen ihr Zeug. Warum ist man auf Reisen empfänglicher dafür?
Jarrett nörgelt dann am Nachmittag in seinem wunderschönen Garten viel über unsere digitale Zeit. Er sagt, er sei seit 35 Jahren, seit er bei Miles David ausgestiegen ist, auf einem »anti-elektrischen Kreuzzug«. Die Kommunikation, die Intimität, die Nähe, all das verschwinde durch die Gadgets, Toys und Screens, schlimm, schlimm, schlimm, und ich fühle mich wie ein Allergiker inmitten einer Pollenwolke. Nicht schon wieder dieses diffuse Weltuntergangsgemäre! Aber dann lächle ich ihn einfach nur freundlich an und denke, was für ein Glück, dass der Mann Klavier spielt und keine Bücher schreibt, sonst hätten die Amerikaner jetzt auch einen Botho Strauß an der Backe.
7. MAI
Die Eurokrise tobt wie ein Hurrikan über Europa und die Finanzmärkte hinweg. Früher wäre ich seit Tagen am Tropf des Netzes gehangen und hätte aus allen Kanälen nonstop Auguren-Monologe und Endzeitszenarios aufgesaugt. Während der Finanzkrise, vor zwei Jahren, dachte ich mal, eines Tages liegst du tot unterm Schreibtisch, und die, die dich finden, werden sich wundern, warum dir noch schwarzes Buchstabensekret aus den Augen sickert. In der aktuellen Krise lese ich einmal am Tag, was in den Zeitungen steht. Ich sage damit nicht, dass das, was in den Zeitungen steht, per se besser ist, als das, was ich im Netz
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