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Ohne Netz

Ohne Netz

Titel: Ohne Netz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Rühle
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»World of Warcraft«. »Da hat es ihn weggerissen,« sagt sein Vater. Als es immer schwieriger wurde, ihn zu erreichen, dachten sie zunächst, das sei die normale Abnabelung während des Studiums. »Andererseits«, sagt die Mutter, »andererseits hätten wir da schon misstrauisch werden sollen. Dass er sich bei uns nicht meldet, na ja gut. Aber er liebte seine beiden kleinen Brüder sehr. Und plötzlich war Funkstille.«
    Eines Tages kam ein Anruf von der Hausverwaltung, die seine Studentenwohnung mitbetreute. Sie müssten da dringend rein, wegen eines Wasserschadens. Es mache aber keiner auf. Ob sie als Eltern die Genehmigung erteilen. »Eine halbe Stunde später haben die wieder angerufen und gesagt, sie würden sich weigern, diese Wohnung zu betreten.« Die Wohnung lebte, Ungeziefer, Maden, Müll. Und ihr Sohn lebte woanders: Bei einer Frau, in deren Avatar er sich in der Warcraft-Welt verliebt hatte. Die beiden lebten zusammen. Das heißt: Sie spielten zusammen. Einmal die Woche ging einer der beiden raus auf die Straße, um Einkäufe zu tätigen. Ansonsten: Das Spiel. Die Eltern setzten sich ins Wohnzimmer der beiden und sagten, sie würden bleiben, bis er mitkomme. »Nach einer Stunde gab er nach, packte eine Tasche und kam mit. Auf dem Weg nach München sagte er, ja, vielleicht sei er tatsächlich ein wenig abhängig. Als wir ihm nahelegten, eine Therapie zu machen, hat er seine Tasche genommen und ist gegangen. Das Spiel war stärker. Das war ziemlich genau vor drei Jahren. Er saß auf dem Stuhl, auf dem Sie jetzt sitzen. Wir haben ihn seither nicht mehr gesehen.« Der Sohn ging zurück ins Spiel. Sie stellten alle Zahlungen ein, »sonst hätten wir ja nicht ihn, sondern nur seine Sucht unterstützt«. Ihm scheint’s egal gewesen zu sein. Er exmatrikulierte sich, beantragte Hartz IV und spielte auf Staatskosten. Da sie nirgends kompetente Hilfe für dieses Problem fanden, gründeten Hirtes den Verein »Aktiv gegen Mediensucht«. Sie haben mir vor dem Besuch einen Packen Einträge von Besuchern ihrer Homepage ausgedruckt, Bekenntnisse von ehemaligen Spielern, die alle von der Wucht, dem Sog, der enormen Kraft dieses Spiels zeugen: Eltern, die erzählen, dass Kinder nur mit ihnen in Urlaub fahren, wenn sie ihnen vorher schriftlich zusichern, dass sie im Hotel jederzeit ins Netz können. Mütter, die Trinkflaschen voller Urin in den Schränken ihrer Kinder finden, weil es Zeitverschwendung wäre, aufs Klo zu gehen. Ehemalige Spieler, die sagen, da komme man nur raus, wenn man alle Passwörter von jemand anderem ändern lasse, die CD verbrenne und dann gute Freunde als Betreuer für die ersten harten Wochen engagiere. Hirtes sagen, ihr Sohn habe sich vor einigen Monaten erstmals wieder bei ihnen gemeldet, in einem Brief. Sie seien vorsichtig optimistisch, dass sie ihn noch in diesem Jahr wiedersehen können.
    Als ich bedrückt nach Hause radle, frage ich mich, warum ich in meinem Tagebuch überhaupt immer von Abhängigkeit rede. Mein Mailen und Surfen war eine fatale Routine, ausgelöst durch Arbeitsstress, Narzissmus und noch so ein paar seelische Ingredenzien. Aber ich sollte vielleicht aufhören, von Sucht zu reden. Zumal ich offline wunderbar klarkomme. Ausgebleicht ist gar nichts, das Leben ist farbintensiver als zuvor. Und auch der anfängliche cold turkey, vor dem ich mich so fürchtete, war doch am Ende nur eine Art Alltasgblues. Ich habe allerdings Angst davor, wieder online zu sein. Wenn ich da wieder in meine alten Muster zurückfalle – ist dass dann doch Sucht?
    22. APRIL
    Der Medizinredakteur Werner Bartens kommt in der Feuilletonredaktion vorbei und sagt: »Jetzt hör mal wieder auf mit dem Scheiß. Das nervt. Du bist so weit weg. Jedes Mal wenn ich was von dir will, muss ich in deinem Büro vorbeikommen. Das hat so was enorm Gravitätisches. Als ob man was Wichtiges zu besprechen hat.« Ganz ähnlich begründen einige die Tatsache, dass sie mir die ganze Zeit über keine Briefe geschrieben haben. Alle sagen sinngemäß, das Angenehme am Mailen sei, dass es einem unverbindlichen Gespräch ähnele. Ein Brief hat dagegen etwas Definitives: Was ich geschrieben habe, ist jetzt meine Position, selbst wenn sie’s vorher nicht war. Und dann klebt man den Brief zu und gibt ihn für immer weg, in den Briefkasten. »Die Mail ist so ein diffuser Strom, der hin- und herwabert, alles ist permanent vorläufig, man kann ja danach hinzufügen, richtigstellen, ändern«, sagte einer. »Beim Brief fühlt es sich

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