Ohne Netz
ich zu unserer IT-Abteilung gegangen und habe sie gebeten, mir den Zugang zu meinem externen Mail-Account freizuschalten.
Ich habe vom ersten Tag meines Harvard-Aufenthaltes an dieses Mail-Programm im Hintergrund meines Rechners offen gehabt und permanent geschaut, ob mir jemand schreibt. Es ist kaum übertrieben, wenn ich sage, dass ich es seither nie mehr wirklich ausgemacht habe. Getrieben von der nervösen Angst, etwas Wichtiges zu verpassen. Befeuert von der seltsamen Hoffnung, dass jetzt, jetzt gleich die eine Mail kommt, die lebenserfüllende Totalmail, die einen tröstend in ihre starken Arme nimmt und nie mehr loslässt. Und solange ich darauf warte, kann ich ja auch mal eben auf »Climate Debate« kucken und auf Spiegel Online« Überschriften scannen, während ich mich einsam fühle, eben weil die allerlösende Mail nicht kommt, weil es sie natürlich gar nicht gibt, und von Spiegel online komme ich ganz kurz auf Youtube und schick noch schnell eine Mail mit einem Link an einen Kollegen.
Nur mal eben. Noch kurz. Ganz schnell. Das sind so die Selbstbetrugsformeln des Online-Süchtigen. So wie der Trinker sagt, nur noch ein Gläschen, sage ich jedes Mal zu mir: Mal eben. Ganz kurz. Nach jedem Absatz, den ich für einen Artikel geschrieben habe, bin ich kurz mal ins Netz abgebogen. Und am Ende eines Wochenendes habe ich nur mal eben 40 Mails beantwortet, damit am Montag Bahn frei ist fürs wirklich Wichtige. Das wirklich Wichtige, das Wochenende mit den Kindern und B., war dann komischerweise nicht ganz so toll wie geplant: Während eines Bauernhofaufenthaltes schlich ich mal alle halbe Stunde ins Zimmer rauf, weil ich auf eine Mail von einem Freund wartete. Mein Sohn fragte irgendwann, ob ich Bauchweh habe, ich würde immer so schnell im Haus verschwinden. Nein, dachte ich, kein Bauchweh, ich hab nur Blackberry.
Der brachte, vor ungefähr einem Jahr, die letzte Verschärfung. Ich habe damals behauptet, ein neues Handy zu brauchen, das alte war aber eigentlich noch in Ordnung. B. habe ich erklärt, der Blackberry sei viel praktischer als das Handy, weil er eine Kalenderfunktion habe, mit deren Hilfe ich endlich meine Termine koordinieren könne. Eine lachhafte Begründung. B. hat einen Monatskalender in der Küche hängen, mehr braucht sie nicht, um unsere Familienlogistik mit Grundschule, Nachmittagsbetreuung und Kindergarten, Klavierstunden, ihren Terminen als Yogalehrerin, Großelternbesuchen und dem ganzen ausgefransten Rest im Griff zu haben. Meinen Blackberry-Kalender kann ich bis heute nicht richtig bedienen. Ich habe zwar mehrfach versucht, da Sachen einzutragen, aber an die allermeisten erinnerte der Blackberry mich aus irgendwelchen Gründen dann nicht. Im Gegenzug gibt es einen Eintrag vom Juni 2009, »Lesung bei Axel 20 Uhr«, in den sich die Maschine aus unerfindlichen Gründen verliebt hat. Ich hatte den Kalender längst wieder aufgegeben und wurde nur jeden Donnerstagmittag an ihn erinnert, wenn es wieder hieß, dass heute Abend besagte Lesung bei Axel sei.
Eigentlich habe ich den Blackberry nur bestellt, weil man damit Tag und Nacht seinen Mail-Account mit sich herumträgt. Und ich verstehe jetzt, warum das Ding in Amerika Crackberry heißt.
Crack, ein Gemisch aus Kokainsalz und Natron, ist die Droge mit dem höchsten psychischen Abhängigkeitspotenzial. Es wirkt euphorisierend, man fühlt sich energiegeladen und hellwach. Während des Konsums ist man fest davon überzeugt, enorm leistungsfähig zu sein. Gleichzeitig kann Crack starke Einsamkeitsgefühle erzeugen. Die sind teils endogene Variationen von wimmrigem Selbstmitleid, teils sind sie aber auch berechtigt, da man als Crack-Konsument tatsächlich vereinsamt. Schließlich interessiert einen kaum noch etwas anderes als die nächste Ladung.
Viele Blackberry-User bekennen, dass der letzte Blick am Abend und der erste am Morgen dem Display ihres Organizers gelte, dass sie sich ohne ihn unvollständig fühlten. Ich hatte ihn überall dabei und habe mir dadurch sogar eine Reise durch Malawi versaut. Malawi! Das ist ein bananenförmiges Land zwischen Mosambik und Sambia, in dem es kein einziges Kino gibt und in den allermeisten Strohhüttendörfern auch keinen Strom. Aber die Mail, in der ein Kollege von Kündigungsgerüchten schrieb, die hat mich auch in Chipoka Bay erreicht. Um mich herum Einbaumboote, ein träger, gold-flüssiger Sonnenuntergang und im Hafengebäude spielten ein paar Jungs mit rostfleckigen Kronkorken Dame, dazu der
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