Ohne Netz
Zeiten habe es ein-, zweimal die Woche irgendwelche Auktionen für Comiczeichnungen gegeben, zu denen musste man hinfahren, die hatten ein paar Stunden auf, dann war wieder Ruhe. Jetzt aber, mit dem Netz, könne man permanent, jeden Tag, jede Nacht weltweit irgendwelchen Editionen nachjagen. »Der kriegt sehr, sehr wenig Schlaf«, sagt sie und schaut dabei selbst recht müde aus. Und dann war da noch die befreundete Bloggerin, die von ihrem Blog spricht wie von einem monströs gefräßigen Kind: »Man gibt, und gibt, und füttert, und füttert und es ist nie genug. Und wenn man nicht täglich weitermacht, hat’s eh keinen Sinn.«
9. DEZEMBER
Heute Nacht bin ich mit einem panischen Gedanken aufgewacht: Spätdienst! Einer von uns Redakteuren kommt immer erst um halb eins in die Redaktion und bleibt dafür abends bis halb neun. Normalerweise sind das angenehm konzentrierte Tage. Man kommt, wenn schon die Texte zum Redigieren verteilt sind, schreibt in Ruhe an einem Text, recherchiert, liest. Richtig ernst wird es nur, wenn nach vier Uhr einer der ganz Großen stirbt, Scorsese, Barenboim, Sophia Loren. Dann muss man schnell einen Nachruf organisieren, Bilder besorgen und gleichzeitig die Seiten umbauen. Was, so schoss es mir im Bett durch den Kopf, was, wenn heute einer stirbt? Ich habe ja jetzt nicht mal mehr die Telefonnummern aller Mitarbeiter! Der Vollmond schien strahlend hell ins Schlafzimmer und malte ein zeitungsgroßes Rechteck aufs Bett. Er hatte einen großen, milchigen Hof, aber die Vorhöfe meiner Angst waren noch größer und leuchteten in noch gleißenderem Licht. Der deutsche Papst stirbt, und du hast die Telefonnummer unseres Theologieexperten Alexander Kissler nicht! Das Feuilleton morgen wird aussehen wie das kahle Rechteck hier auf dem Bett, eine weiße, leere Fläche.
Sobald ich in der Redaktion bin, lasse ich mir von unserer Sekretärin Michaela Metz das 190-seitige Adressverzeichnis des Feuilletons ausdrucken. Weil ich schon dabei bin, frage ich, ob ich auch das Münchner Telefonbuch mit in mein Büro nehmen dürfe. Michaela sagt, prinzipiell gerne, das benutze eh keiner mehr, aus genau diesem Grund habe sie es längst weggeworfen. Oben in der Chefredaktion gebe es angeblich noch eine CD-Rom mit allen deutschen Telefonnummern, ob sie mir die holen solle. Nein, sage ich, gar kein Problem, ich schau zu Hause nach, und troll mich dann in meine analoge Klause. Na, das kann ja heiter werden. Kein Kontakt zur Außenwelt, gefangen im 19. Stock und draußen dichtes Schneetreiben.
Als mein Chef Thomas Steinfeld reinkommt und fragt, ob ich zu einem zweitägigen Symposium über die deutsche Literatur in Rumänien zu Zeiten der Securitate gehen könne, nehme ich begeistert an. Ich habe kein einziges rumäniendeutsches Buch gelesen, das Gesamtwerk der frischgekürten Nobelpreisträgerin Herta Müller wurde an mir vorbeigeschrieben, aber Hauptsache nicht hier sein, wo ich das Gefühl habe, ohne Google keine richtige Arbeit mehr leisten zu können. Um nicht in meinem analogen Blues zu versacken, beschließe ich, meinen Schreibtisch aufzuräumen, auf dem die Schuldtürme mal wieder wacklige Höhen erreicht haben. In einem der Stapel liegt das Buch »Payback«, in dem Frank Schirrmacher schreibt, das Schlimme am Dauerbeschuss durch das Netz sei, dass man nicht mehr Wichtiges von Unwichtigem trennen könne. Ich lade Herrn Schirrmacher hiermit herzlich ein, ein paar Tage an meinem analogen Schreibtisch zu verbringen. Schon nach kurzem wird er baden in Unwichtigem, alles Wichtige aber wird ihm abhandenkommen.
Es ist ja eine sehr rücksichtsvolle Einrichtung der Natur, dass die Verdauung diskret vonstattengeht, still, im Dunkel unserer Körper. So ähnlich ist das bei meinem Schreibtisch auch. Ich lege die Post auf einen der elf Stapel, die um mich herum wuchern, gehe kurz raus, und wenn ich wiederkomme, ist die Post verschwunden. Spurlos. Unauffindbar. Die Stapel haben sich die Briefe restlos einverleibt, und jetzt treiben diese durch das geheimnisvolle Verdauungssystem des Schreibtischs.
Ab und zu scheidet er auch wieder etwas aus. Vorhin zum Beispiel. Wobei es in diesem Fall wirklich unheimlich war. Ich habe vor einem halben Jahr, nach dem Elba-Urlaub, in dem ich meine Internetsucht so bitter vorgeführt bekommen hatte, einen Text geschrieben, in dem ich mir Gedanken darüber machte, was es wohl bedeutet, dass wir still und heimlich mit unseren Apparaten verschmelzen. Sie geben uns mittlerweile den Lebenstakt
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