Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
seine trockene Kehle mit einem großen Schluck Barbera. Dann fuhr er fort: „Und nun nehmen wir mal an, du erfährst davon, dass du für 20000 Euro zwei Nieren von einem in China hingerichteten Mann erhalten kannst, der genau die richtigen Organwerte hat, wie sie Tobias braucht. Willst du mir jetzt etwa allen Ernstes erzählen, dass du diese Chance nicht wahrnehmen würdest?“
Heiner Tannenberg schwieg. Angestrengt dachte er nach. „Aber das wäre ja die totale Zwei-Klassen-Medizin: Überleben nur für Reiche!“
„Jetzt kletterst du schon wieder hoch auf den moralischen Elfenbeinturm!“
Aber Heiner ließ sich von dieser Bemerkung nicht stoppen. „Dann könnte man ja gleich die Organe, die über Eurotransplant verteilt werden, meistbietend versteigern. Dann würden die Armen sterben und die Wohlhabenden könnten weiterleben. So etwas dürfen wir doch noch nicht einmal denken.“
„Mann, Heiner, bist du naiv! Du glaubst ja gar nicht, was wir Mediziner auf unseren Kongressen zu vorgerückter Stunde so alles an radikalen Thesen von uns geben. Dagegen ist die gerne als extremistisch diffamierte Stammtischmeinung ein regelrechtes Priesterseminar. – Aber bleib doch mal wenigstens für eine Minute bei unserem konkreten Beispiel und beantworte mir endlich mal meine Frage.“
Heiner verweigerte sich, wollte sich nicht weiter von seinem Skatbruder aufs Glatteis führen lassen. Um sich aus dieser dunklen Sackgasse herauszumanövrieren, versuchte er das Thema zu wechseln: „Wisst ihr eigentlich, wie das Anagramm von ›Koma‹ lautet?“
„Das was, Heiner?“
„Das Anagramm, Bruderherz. Diesen Begriff wohl noch nie gehört, oder?“
Tannenberg zog es vor zu schweigen.
Dafür meldete sich Dr. Schönthaler zu Wort: „Das ist doch irgendwas mit Rückwärtslesen, wenn ich mich richtig erinnere.“
„Sehr gut, Herr Doktor.“ Heiner legte die Spielkarten beiseite. „Der Begriff ›Anagramm‹ kommt natürlich aus dem Griechischen und bezeichnet die Umstellung der Buchstaben eines Wortes oder einer Wortgruppe zu einer neuen, sinnvollen Lautfolge.“
„Oh je, jetzt hält der Herr Oberstudienrat gleich wieder einen Vortrag vor seinem Deutsch-Leistungskurs“, schwante Tannenberg Fürchterliches.
„Ein bisschen Bildung schadet dir auch nichts“, konterte Heiner schlagfertig. „Als Erfinder dieser linguistischen Spielerei wird meist der alte Grieche Lykophron von Chalkis angegeben. Eigentliche Heimat des Anagramms ist allerdings der antike Orient, wo es besonders in den religiösen Geheimschriften der jüdischen Kabbalisten weite Verbreitung fand.“
„Interessant!“, bemerkte der Rechtsmediziner kauend.
Heiner freute sich über das Lob und fuhr fort: „Auch im Mittelalter begab man sich auf die intensive Suche nach symbolischen Bezügen zwischen bestimmten Wörtern, z.B. ›Ave – Eva‹. Besondere Beliebtheit erfuhren die Anagramme im 16. und 17. Jahrhundert u. a. für Buchtitel oder als Anspielungen in Briefen. Darüber hinaus verwendeten Galilei u. a. Anagramme auch zur Verschlüsselung und Geheimhaltung wissenschaftlicher Entdeckungen. Am weitaus häufigsten wurde es für Pseudonyme benutzt, so z. B. von Rabelais, Grimmelshausen, Voltaire oder Verlaine. Die strengste Form stellt das rückläufige Anagramm dar, also das einfache Rückwärtslesen eines Wortes oder Satzes, ohne dabei die Buchstaben zu vertauschen – mein großes Faible. Einfache Anagramme sind zum Beispiel: ›ein-nie‹, ›Eis-sie‹, ›Tor-rot‹, ›Eber-Rebe‹, ›Leben-Nebel‹, ›Regal-Lager‹, ›Emma-Amme‹, ›Amora-Aroma‹ – und wie sie alle heißen. Das schönste aber ist: ›Oh Cello voll Echo‹.“
„Schön vorgetragen, Herr Lehrer. Setzen eins. – Sag mal, kennst du eigentlich die Geschichte von dem Sportlehrer, der sieht, wie ein Biologie-Kollege im Lehrerzimmer mit einem großen silbernen Koffer auftaucht?“
„Nee. Aber auf was soll das schon anderes rauslaufen, als auf einen deiner blöden Lehrer-Witze.“
„Los, erzähl schon, Wolf“, forderte Dr. Schönthaler.
„Also: Dieser stets zu einem derben Scherz aufgelegte, trinkfeste Sportlehrer schmettert ihm sofort lauthals entgegen: ›Wie kann man nur mit so einem albernen Ding durch die Gegend laufen? – Haben Sie in diesem komischen Organkoffer wenigstens eine gesunde Leber drin? Ich könnte nämlich eine neue sehr gut gebrauchen.‹ Und wisst ihr, was der Biolehrer wie aus der Pistole geschossen, ganz trocken geantwortet hat?“
„Nee“,
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