Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
Flaschenhals, schenkte sich ein Weißweinglas voll und begab sich damit zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin warf er einen kurzen Blick aus dem Fenster, wo er zu seinem großen Entsetzen die Schleicherin auf der dem Nordhaus gegenüberliegenden Straßenseite erblickte.
Er wusste nicht mehr genau, in welchem Stück der CD die Stelle mit dem landenden Hubschrauber versteckt war. Aber er hatte eine Ahnung, die er auch kurz darauf bestätigt fand: Sie war Bestandteil von ›Another brick in the wall‹.
Nachdem er leise im Schnelldurchlauf über das Stück gehört hatte, zippte er mit seinem Finger auf einen kreisrunden schwarzen Knopf mit der Ziffer 4. Dann ging er an das zur Straße hin gelegene, doppelflüglige Holzfenster und öffnete es sperrangelweit. Anschließend drückte er die Starttaste und drehte die Anlage auf.
In der unter seinen Füßen befindlichen elterlichen Wohnung begann sofort sein spezieller Freund, der kleine, fette Langhaardackel mit einem asthmatischen Protestgekläffe. Von der Straße her erfuhr er nahezu zeitgleich lautstarke Unterstützung vonseiten des teilweise kahlrasierten Pudels der Schleicherin.
Tannenberg beeindruckte dies nicht im Geringsten. Trotzig wie ein kleines Kind, drehte er den Regler noch ein wenig mehr nach rechts. Den Text hatte er noch gut in Erinnerung. Eine Stelle hatte es ihm besonders angetan, deshalb gab er weitere Lautstärke zu. In den dröhnenden, hämmernden Bass hinein sang er aus vollem Halse mit: „We don’t need no education – we don’t need no thought-control!“
Plötzlich sah er seine Mutter, die mit zornesrotem Kopf in sein Wohnzimmer hereingestürmt kam.
„Wolfi! Bist du verrückt geworden? Was denken denn die Nachbarn?“, schrie sie, wild mit den Armen um sich schlagend, hilflos gegen die laute Musik an.
„Schon gut, Mutter.“ Beschwichtigend hob Tannenberg die Hände. „Ist ja auch schon vorbei. Muss halt manchmal sein!“ Wie gewünscht reduzierte er die Lautstärke, schloss das Fenster.
„Aber doch nicht so laut!“, entgegnete sie vorwurfsvoll und machte seufzend auf dem Absatz kehrt.
„Ich mag Musik nur, wenn sie laut ist …, wenn sie mir in den Magen fährt … Ich mag Musik nur, wenn sie laut ist … und der Boden mir unter den Füßen bebt … – Wohwohwoohwoo“, intonierte Tannenberg den von ihm eigenmächtig modifizierten Kultsong Herbert Grönemeyers.
Noch bis vor einigen Minuten hatte er vorgehabt, seinen beiden Gästen aus dem gerade eingetroffenen reichhaltigen Fundus von Guerrini-Leckereien etwas Gutes zu kochen. Aber irgendwie hatte er auf einmal keine Lust mehr dazu. Ein Blick auf seine Armbanduhr überzeugte ihn zudem davon, dass die Zeit dafür gar nicht mehr ausreichen würde. Also bereitete er aus den in einem der Pakete verstauten Antipasti einen original italienischen Vorspeisenteller und schob drei tiefgefrorene Chiabattas in den Backofen.
Tannenberg staunte nicht schlecht, als ihm etwa eine viertel Stunde später Dr. Rainer Schönthaler mit den Worten „Für unseren spendablen Gastgeber eine kleine Aufmerksamkeit“ ein mit geblümtem Geschenkpapier umhülltes kleineres Päckchen überreichte.
„Sag, mal, was ist denn ich dich gefahren. Hast du etwa an der Volkshochschule einen Benimm- und Höflichkeitskurs belegt?“
„Weit gefehlt, alter Freund! Pack’s erst mal aus!“
Wolfram Tannenberg tat wie befohlen, während Heiner sich neugierig von seinem Küchenstuhl erhob, flugs dem Gerichtsmediziner die Hand zur Begrüßung reichte und danach gebannt die Blicke auf die Hände seines Bruders richtete, der etwas unbeholfen an dem Päckchen herumnestelte, ohne jedoch die Anfänge der durchsichtigen, und deshalb kaum erkennbaren, Klebestreifen zu entdecken.
Dr. Schönthaler nahm ihm das Geschenk aus der Hand und riss, ohne sich auch nur einen Deut um das normalerweise übliche Auspack-Prozedere zu kümmern, nicht nur das Papier auseinander, sondern zerrte gleich auch noch den Deckel des Pappkästchens nach oben, entnahm ihm eine schmale Broschüre und begann daraus vorzulesen:
„Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer wohlüberlegten Entscheidung. Sie haben einen sehr guten Kauf getätigt. Mit diesem formschönen, robusten Akku-Kombitrimmer für Schnurrbart, Ohren- und Nasenhaare haben Sie eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Beachten Sie bitte besonders die mitgelieferten Zusatzteile: Zwei 4-stufig verstellbare Abstandshalter, Hygieneclipperaufsatz, Frisierkamm und den Aufbewahrungsstand.“
Der
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