Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
verstand.
„Gott sei Dank! Wir haben ihn wieder. Das war ganz schön knapp. Na ja, wahrscheinlich muss der Knabe ja gar nicht mehr so lange durchhalten. Vielleicht wird er schon sehr bald von seinen Leiden erlöst. Wenn ich den Chef vorhin richtig verstanden habe, schickt von Gleichenstein demnächst den Hubschrauber in der Schweiz los. Die haben anscheinend gewaltige Probleme mit irgendeinem versoffenen Großindustriellen, der dringend eine neue Leber braucht. – Rebekka, haben Sie eigentlich inzwischen den Organspendeausweis für den jungen Herrn hier fertiggemacht?“
„Natürlich! Das war wie immer eine meiner ersten Amtshandlungen, nachdem er eingeliefert wurde. Als ich seine Papiere hatte, hab ich sofort damit angefangen.“
Organspendeausweis? Nie im Leben hab ich einen Organspendeausweis besessen!, hätte er liebend gerne lauthals losgeschrien, wäre aufgesprungen und fortgerannt; aber erneut regte sich nichts, was ihn dazu befähigt hätte.
Der menschliche Körper verfügt ja bekanntermaßen über beeindruckende Schutzmechanismen, die ihn in Extremsituationen vor dem völligen Zusammenbruch bewahren. Dieses Phänomen tritt besonders in Situationen auf, in denen Schmerzzustände sich derart steigern, dass sie unerträglich werden. Der Leib bedient sich der Bewusstlosigkeit, um wenigstens die physischen Grundfunktionen aufrechtzuerhalten und damit das Überleben eines hochkomplexen biologischen Organismus zu gewährleisten.
Aber auch die Seele verfügt über ein wirkungsvolles Instrumentarium, um psychische Extremsituationen zu bewältigen: Das Gehirn kappt einfach die Verbindungsdrähte zur Aufnahme von Sinnesreizen aus der Außenwelt.
Als Maximilian Heidenreichs Denk- und Wahrnehmungsvermögen aus einem kurzen Tiefschlaf erwachte, hatte sich in der Zwischenzeit eine merkwürdige Veränderung in seinem Innersten ereignet. Der Schock, der seinen psychischen Kollaps ausgelöst hatte, war zwar noch nicht gänzlich überwunden, hatte sich aber auf ein erträgliches Maß reduziert.
Mit einem Schlag war ihm klar, was mit ihm los war:
Ich liege narkotisiert auf der Schlachtbank! Die wollen mich auseinanderschneiden und dann meine Organe meistbietend verschachern! – An irgendeinen versoffenen Großindustriellen!
Dieser letzte Satz hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Mehrmals wiederholte er ihn.
Die wollen mich überhaupt nicht erwachen lassen! Von wegen künstliches Koma, um meinem Körper Erholung zu gönnen, damit ich schneller wieder gesund werde. Das interessiert die doch gar nicht! Die wollen mich nur so lange in einem unversehrten Zustand konservieren, bis der Zeitpunkt gekommen ist, um mich in aller Ruhe genüsslich auszuweiden und meine gesunden inneren Organe ›irgendeinem versoffenen Großindustriellen‹ implantieren zu können. Dieser schockierende Satz klang ihm immer noch im Ohr und ließ ihn erneut innerlich erschaudern. Ich bin eine narkotisierte Organkonserve, ein lebendig Begrabener. – Was kann ich denn dagegen machen? Was kann ich tun?
Plötzlich dachte er an ein Interview, das er irgendwann einmal gelesen hatte. Es war ein Gespräch mit dem Atomphysiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker. Er konnte sich weder an das Thema noch an konkrete Einzelheiten erinnern. Bis auf die Passage, die nun unvermittelt gut lesbar auf seiner inneren Kinoleinwand auftauchte.
Die Reporterin hatte ihrem Gast vorgeworfen, er sei ein Pessimist, worauf dieser das Gleichnis der drei Frösche, die in drei verschiedene, zur Hälfte mit Milch gefüllte Eimer gefallen waren, zum Besten gegeben hatte.
„Wie reagiert wohl der optimistische Frosch?“, hatte von Weizsäcker gefragt und gleich anschließend selbst die Antwort gegeben: „Er sagt sich, dass von alleine bestimmt alles gut werde, er deshalb nichts zu tun brauche – und stirbt.“
„Und was macht der pessimistische Frosch?“, hatte der Philosoph anschließend gefragt. „Ganz einfach: Der unternimmt auch nichts, weil er sich sagt: ›Ich kann sowieso nichts tun‹ – und stirbt ebenfalls.“
„Und was macht der Realist? Er fragt sich kurz, was er denn überhaupt tun könne, und kommt dann sehr schnell zu der Erkenntnis, dass er nur das machen könne, wozu ihn die Natur bestimmt habe. Und das sei nun mal das Schwimmen. Also schwimmt er und schwimmt und schwimmt – bis sich schließlich aus der Milch Butter gebildet hat und er aufgrund des nun festen Untergrundes mit Hilfe eines beherzten Sprungs den Eimer
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