Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
helfen, aber er kann es. – Amen.“
Nach diesem wahren seelsorgerischen Predigtmarathon tränkte der alte Pfarrer die dürstende Kehle, erhob sich von seinem Stuhl und schlich mit schlurfenden Schritten aus dem Krankenzimmer.
Amen, hatte Maximilian automatisch zugestimmt, denn obwohl er solchen litaneienartigen Sprüchen normalerweise nicht viel Positives abgewinnen konnte, schöpfte er in seiner extremen Situation daraus durchaus Hoffnung und Mut, wenn auch nur ein wenig.
Dann versuchte er, seine Lage nüchtern zu analysieren.
Es führt kein Weg daran vorbei: Ich liege als lebende Organkonserve auf einer Krankenstation, deren Mitarbeiter anscheinend nur eines im Sinn haben: mich wie ein Stück Wild aufzubrechen und meine kostbaren Innereien meistbietend zu verschachern. Gibt es denn überhaupt noch irgendeine Möglichkeit, mein Schicksal positiv zu beeinflussen?
Er grübelte und grübelte.
Aber umso mehr er über die Situation, in der er sich befand, nachdachte, umso auswegloser erschien sie ihm, und umso mehr bewertete er seinen geplanten Widerstand als unsinnige Sisyphusarbeit.
Blödsinn, ich kann überhaupt nichts machen. Ich bin ein vollkommen handlungsunfähiges Objekt, ein bereits narkotisiertes menschliches Schlachttier kurz vor dem Ausweiden! Ich bin eine zwar lebende, aber bewegungs- und artikulationsunfähige Mumie, bin skrupellosen Klinikärzten hilflos ausgeliefert, die nur drauf warteten, mich zu einem von ihnen festgelegten Zeitpunkt zu töten und meine Organe an finanzkräftige Schwerkranke zu verkaufen.
Je länger er über seine Situation nachdachte, umso deprimierter wurde er.
Ich bin in einer Flasche eingesperrt, die mit einem Stopfen fest verschlossen ist. Mich kann nur noch ein Wunder retten! Aber wer um alles in der Welt sollte denn dieses Wunder vollbringen? Die Externen, also meine Mutter oder Marieke? Oder ihr Onkel, der ja Polizist ist? Nein, unmöglich, denn die wissen doch gar nichts von dem, was sich hier abspielt. – Und die Internen, also die Mitarbeiter dieser Station? Die profitierten doch sicherlich alle in so hohem Maße von diesem einträglichen Geschäft, dass von deren Seite garantiert auch keine Hilfe zu erwarten ist!
Seine trotzigen Widerstandskräfte erlahmten zusehends, große Zweifel hinsichtlich seines Windmühlenkampfs gegen die grausamen Launen des Schicksals bemächtigten sich seiner.
Meine Lebensuhr läuft ab, Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Stunde um Stunde.
Verzweiflung packte ihn.
Soll ich nicht einfach meinen Widerstand aufgeben und mich willenlos meinem Schicksal ergeben? Ich hab ja sowieso keine reelle Chance mehr, kann mich nicht im Geringsten wehren. Wenn ich jetzt einfach einschlafe, bekomme ich von meinem schrecklichen Ende vielleicht gar nichts mehr mit. Und würde einfach nur nie mehr aufwachen – ein sanfter Tod ohne Schmerzen.
Die eben noch erfolgreich von ihm bekämpfte Schläfrigkeit breitete sich erneut aus und legte ihren schweren bleiernen Mantel über ihn. Und wieder erschien diese verlockende Engelsgestalt, die ihn abermals mit eindeutigen Gesten dazu aufforderte, ihr zu folgen.
„Los, los Egon, bring jetzt endlich diesen Kerl hier runter in die Pathologie. Der Hubschrauber ist schließlich schon auf dem Weg hierher!“, rief plötzlich Oberschwester Rebekka in den Flur hinaus, während sie gleichzeitig Maximilians Zimmertür aufriss.
Mit einem Mal war er wieder hellwach.
Ist es jetzt schon so weit? Oh nein, ich will nicht! Ich will nicht!, flehte er.
Sein Kopf schien zu bersten. Schockwellen lähmender Angst durchfluteten ihn. Sekundenlang konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen, alles war auseinandergerissen, nur noch bruchstückhaft vorhanden, bot keinen Halt mehr.
Was kann ich nur machen? Ich will nicht sterben! Ich will nicht! Was kann ich nur machen? Bitte, lieber Gott, hilf mir doch, bitte!
Es war kein richtiges Gebet, das Max da in seiner Verzweiflung produzierte. Es waren angstbesetzte Hilfeschreie, jammervolles Flehen und Betteln, eindringliche Stoßgebete – einzelne Worte, Fragmente von Sätzen, aber auch zusammenhängende Passagen.
Zum Beispiel der Text des Gebets, das er in seiner Kindheit jeden Abend mit seiner Mutter gesprochen hatte: ›Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus allein‹. Oder der Anfang seines Konfirmationsspruchs: ›Der Herr ist mein Hirte, er weidet mich auf einer grünen Aue.‹
Dieses chaotische mentale Gebrodel wurde begleitet von spürbaren
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