Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
Krankenbett auftauchen, an dessen vergittertem Fußende ein großes Schild mit der Aufschrift ›Danger! – HIV-Positiv‹ hing.
Die in dem Bett liegende Person erwachte gerade.
Eine hagere Knochengestalt erhob sich und setzte sich mit ihren dünnen baumelnden Beinen auf die Liege. Gleich nachdem sie sich aufgerichtet hatte, riss sie sich die Infusionsschläuche und die anderen zur medizinischen Grundversorgung notwendigen Gerätschaften ab, stellte sich etwas ungelenk auf die Füße und kam wie ein magersüchtiger Roboter an Maximilians Bett gelaufen.
Er blickte in ihr aschfahles, regungsloses Gesicht – und erschrak fürchterlich, denn es war kein menschliches Antlitz, in das er da hineinschaute, sondern eine fratzenhaft entstellte Totenmaske.
Als der Sensenmann direkt neben ihm stand, zückte dieser plötzlich eine blutverschmierte Infusionskanüle, warf den Arm nach oben – und rammte sie mit voller Wucht Maximilian in den Bauch, ohne dass dieser allerdings dabei auch nur den Ansatz eines Schmerzes verspürt hätte.
Kurz nach diesem Stich schwoll der Chorgesang noch mächtiger an, die Engel traten laut singend mit ausgestreckten Händen aus dem Hintergrund hervor und bildeten einen dichten Kreis um sein Bett. Wie auf Kommando änderten sie den Text der ›Ode an die Freude‹, den sie die ganze Zeit über ohne Unterlass stumpfsinnig wiederholt hatten und sangen nun:
„Freude schöner Götterfunken
Gleich bist du im Totenreich.“
15
Als Tannenberg und seine Nichte nach dem Besuch der Schlossklinik wieder in der Beethovenstraße eintrafen, wurden sie von seiner Mutter empfangen, die es sich wie fast immer um diese Tageszeit auf der Fensterbank auf einem untergelegten Kissen gemütlich gemacht hatte.
„Wolfi, vor einer halben Stunde hat eine Frau für dich angerufen. Eine Ellen Herrbeck oder so ähnlich“, verkündete sie lauthals in Richtung des roten BMW-Cabrios ihres Sohnes.
Vom Inneren der Küche her erfuhr dieser Ausruf eine von Tannenberg als nicht minder unerwünscht empfundene Ergänzung aus dem Munde seines betagten Vaters: „Wer ist denn das? Hat der Herr Hauptkommissar etwa eine Neue? Eine, die er sich wieder nicht traut, uns vorzustellen? – He?“
„Wolfi, ich hab ihr die Nummer von oben gegeben. Sie hat nämlich gesagt, dass sie dich im Telefonbuch nicht gefunden hat. Deshalb hat sie bei uns angerufen. Ganz schön schlau, die Frau, gell?“
„Danke, Mutter“, war alles, was dem Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission dazu über die Lippen kam. So schnell er nur konnte, verzog er sich hoch in seine im ersten Obergeschoss gelegene Wohnung.
Es dauerte nicht lange, bis das Telefon zu läuten begann.
„Hallo, lieber Herr Tannenberg, ich bin’s, Ellen Herdecke“, meldete sich eine sympathische Stimme am anderen Ende der Leitung. „Stellen Sie sich mal vor, was mir vor zwei Stunden passiert ist: Eine alte Freundin hat angerufen und mich gefragt, ob ich ihre beiden Karten für eine musikalische Lesung heute Abend haben wolle. Sie sei verhindert, weil ihr etwas Wichtiges dazwischen gekommen sei. Und da hab ich mir gedacht: Das ist doch vielleicht etwas für den Herrn Tannenberg, etwas das ihm mehr liegt als eine Oper oder ein Symphoniekonzert. Na, wie wär’s, hätten Sie Lust?“
„Ähm … Na … Natürlich“, stammelte der völlig übertölpelte Kriminalbeamte. „Gerne. Nur, was ist das denn eigentlich, eine musikalische Lesung?“
Du bist vielleicht ein Trottel!, schimpfte seine innere Stimme sofort los. Musst du dich denn schon wieder als absoluter Kulturmuffel outen?
„Ich sehe schon, Sie gehören zu den Menschen, die man regelrecht mit Kunst umzingeln muss, damit sie nicht mehr flüchten können“, entgegnete Ellen lachend. „Bei einer musikalischen Lesung stellt ein Schriftsteller sein Buch vor, liest, wie der Name ja auch schon vermuten lässt, ein wenig daraus vor. Und damit so etwas nicht zu trocken und langweilig für die Zuhörer wird, gibt es zwischendurch mehrere musikalische Darbietungen. Heute Abend zum Beispiel von einem hervorragenden Streicher-Quintett, das ausschließlich mit Bundespreisträgern des Jugend-Musiziert-Wettbewerbs bestückt ist. Zwei von ihnen kenne ich sogar persönlich. – Na, was halten Sie davon.“
Tannenberg biss sich auf die Zunge, verschluckte mögliche ketzerische Kommentare und sagte blitzschnell zu. So war zumindest gewährleistet, dass er keinen zögerlichen Eindruck auf Ellen machte.
Aber bereits kurz nach Beendigung des
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