Ohnmacht: Tannenbergs dritter Fall
stundenlangen Todeskampf – also Agonie in Reinkultur.
Das waren exakt Leas eigene Worte, dachte er. Sie wollte es nicht anders. Sie wollte zu Hause in ihrem eigenen Bett sterben. Und diesen Wunsch musste ich ihr doch erfüllen. Ich hatte doch gar keine andere Wahl.
Sie hatte ihn immer und immer wieder angefleht, wie ein kleines Kind, das unbedingt ein bestimmtes Spielzeug haben wollte. Und er hatte es ihr schließlich versprochen. Aber das war ihr immer noch nicht genug gewesen. Er musste es ihr schwören. Schwören, dass er sie nicht im Stich lassen, sondern bis zum letzten Atemzug bei ihr bleiben würde.
Was er dann ja auch getan hatte.
Die Vorstellung jedoch, dass er, der zwar aufgrund seines Berufs schon viele Tote gesehen hatte, aber noch nie einen Menschen bei diesem schrecklichen Sterbeprozess begleitet hatte, bei sich zu Hause im Schlafzimmer, ohne die medizinische Notfallversorgung eines Krankenhauses, dies alles ertragen sollte, zertrümmerte ihm fast sein Herz.
Als Lea, die ja selbst Ärztin war, merkte, dass alle medizinischen Therapieversuche bei ihr fehlschlugen, entschied sie sich irgendwann plötzlich dazu, nicht auch nur noch einen Tag länger im Krankenhaus zu verbleiben. Widerspruchslos hatte Tannenberg sie nach Hause gefahren und die erforderlichen Pflege- und Betreuungsmaßnahmen gemeinsam mit seiner Mutter erbracht. Oft hatte auch Heiner geholfen und seinen Bruder bei den Nachtwachen abgelöst. Dr. Schönthaler trug ebenfalls seinen Teil zur Bewältigung der pflegerischen Aufgaben bei, indem er sich um die medizinische Versorgung der Todkranken kümmerte.
An diesem wolkenlosen, milden Herbsttag, der eigentlich eher ein strahlender Spätsommertag war, hatte er natürlich sofort seinen Freund verständigt, der auch schon wenige Minuten später bei ihm eintraf. Der Rechtsmediziner erschien in Begleitung Margot Tannenbergs, die Lea die ganze Zeit über aufopfernd und liebevoll versorgt hatte. Stumm ergriff sie die eiskalte Hand ihres jüngsten Sohnes und streichelte sie zärtlich, während Dr. Schönthaler Lea untersuchte.
„Wolf, es geht zu Ende mit ihr“, sagte er, als er fertig war und setzte sich für eine Weile still neben ihn.
Dieser Morgen hatte die Freundschaft der beiden Männer noch fester zusammengeschmiedet, als sie vorher schon gewesen war. Tannenberg war ihm unendlich dankbar, dass er ihm in dieser schweren Stunde zur Seite stand. Und auch dafür, dass er großes Verständnis aufbrachte, als Tannenberg ihn bat, sich darum zu kümmern, dass Lea zu ihm ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht wurde. Er wollte einfach gerne noch einmal mit ihr ganz alleine sein und in aller Ruhe von ihr Abschied nehmen.
Es war dann auch ein sehr intensiver, emotionaler Abschied geworden, ein schmerzhafter und ein endgültiger zwar, ein Abschied für immer, eine Reise ohne Wiederkehr, aber auch ein Akt der Symbiose zwischen zwei Menschen, deren außergewöhnliche, intensive Bindung noch nicht einmal der Tod zu zerstören vermochte.
Manchmal ist die Liebe eben größer als das Leben!, dachte Tannenberg und seufzte kurz auf. Lea war ja sowieso der festen Überzeugung gewesen, dass unsere Liebe so einzigartig, stark und unvergänglich gewesen sei, dass selbst der Tod sie nicht zerstören könne. Und dass die Bande zwischen uns niemals zerreißen würde …, und wir im Himmel garantiert wieder vereint werden würden … Und zwar dadurch, dass wir dort zu einer untrennbaren körperlichen Einheit verschmelzen würden. – Das wäre wunderbar!
Tannenberg teilte zwar in dieser Hinsicht nicht unbedingt Leas Zukunftsoptimismus, aber er hatte ihre tiefe Religiosität, der auch dieser feste Glaube entsprang, stets akzeptiert, ihn sogar oft bewundert, gerade nachdem sie unheilbar erkrankt war. Sie hatte selbst zu diesem Zeitpunkt nie die Hoffnung aufgegeben, und auch dann, nachdem sie als Ärztin sehr wohl wusste, wie dramatisch es um sie stand und was noch alles auf sie zukommen konnte, trotzdem nie ihr Gottvertrauen aufgegeben, nie gezweifelt. Ganz im Gegensatz zu ihm, der einfach nicht verstehen wollte, warum Gott ausgerechnet seine Lea, diesen wunderbaren Menschen, mit dieser heimtückischen Krankheit bestraft hatte.
„Ja, lieber Wolf, das ist das alte Problem der Theodizee“, hatte Dr. Schönthaler, der alte Hobbyphilosoph, einmal lapidar festgestellt. „Wie soll man das auch unter einen Hut bringen: Auf der einen Seite an die Güte, Weisheit und Allmacht Gottes glauben und auf der anderen
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