Ohnmachtspiele
still, geht es Ihnen nicht gut? Na ja, der November hat’s schon in sich, oder? Jedenfalls hat man für diese namenlosen Toten 1840 einen eigenen Friedhof errichtet, auf dem bis 1900 fast fünfhundert unbekannte Tote bestattet worden sind. Stellen Sie sich vor: quasi jeden Monat eine Beerdigung, ohne Pomp und Buketts, ohne Trauergemeinde und Beileidsbekundungen. Aus dem feuchten Grab ins kühle Loch, und keine Witwen, die mit einem fleckigen Geschirrtuch oder einem zerfransten Handbesen Grabplatten von Staub und welken Blättern befreien, keine dürre, mit Altersflecken übersäte Hand, die das Türchen einer Grablaterne öffnet, vorsichtig eine Kerze hineinstellt, hier hält keine Flamme dem Wind stand, der oft über den Friedhof peitscht wie ein verrücktes Seil. Einen verlässlichen Besucher hat es allerdings gegeben: Das Hochwasser hat die Grabstätten überschwemmt, die rohen Erdhügel eingeebnet, die Holzkreuze davongetragen und den Friedhof schließlich der Natur zurückgegeben. Dort hinten im Wald, jetzt in der Dunkelheit sieht man es nicht, zwischen den Hollundersträuchern, dort verfault eine Holztafel, die wahrscheinlich nicht mehr lang an die Hunderten hier Begrabenen erinnert.
Um 1900 hat der Bezirksvorsteher von Simmering den neuen Friedhof anlegen lassen, hinter dem Hochwasserschutzdamm … alles mit freiwilligen Arbeitern, ohne Lohn, die Mauer, die Kreuze, sogar die Särge hat immer wieder ein anderer Tischler aus dem Bezirk zur Verfügung gestellt. Einhundertvier, um genau zu sein, so viele Wasserleichen liegen hier unter der Erde. Ich habe die Kreuze und Tafeln gezählt, von dreiundvierzig kennt man den Namen, einundsechzig haben ihn mit ins Grab genommen haben – da steht dann nur ‚männlich‘, ‚weiblich‘ oder ‚namenlos‘. Sie sehen mich so skeptisch an … ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Geschichte studiert habe und jetzt ein Antiquariat führe, in der Währinger Straße … und diese geschichtsträchtigen Orte in Wien … wobei ich heute mehr oder weniger zufällig hierhergekommen bin. Gestern wollte ich eigentlich da sein, am ersten Sonntag nach Allerseelen, da veranstaltet der Fischerverein jedes Jahr eine kleine Gedenkfeier, bei der sie ein Floß mit Blumen und Kerzen in die Donau setzen. Vor etlichen Jahren bin ich während dieser Zeremonie zufällig vorbeispaziert. Schwermütig war ich, wie zumeist um diese Jahreszeit. Da habe ich mich zu diesen Leuten dazugestellt. Und diese Minuten, in denen wir stumm dem Floß hinterhergeschaut haben … diese plötzliche Nähe zu mir völlig unbekannten Menschen … als ob ein unsichtbarer Todesengel uns mit seinen Flügeln näher zueinander getrieben hätte … verscheucht all die lächerlichen Differenzen, Platz da für etwas viel Mächtigeres! Was für eine Erleuchtung, und was für eine Erschütterung, vielleicht zehn Minuten, die wir schweigsam und demütig in unseren Mänteln versunken dort am Wasser gestanden sind, ich erinnere mich noch genau, irgendwann hat einer mit dem Schuh im Kies gescharrt, dann ist von einem anderen ein Räuspern gekommen, ich hätte sie ja noch viel länger ertragen können, diese schaurige Erkenntnis, aber dann seufzt einer ein lang gezogenes Ja, worin all die unausgesprochenen Gedanken der vergangenen Minuten versammelt sind, dann sind wir wieder unsere Wege gegangen.
Dieses Jahr habe ich es zum ersten Mal seit damals nicht geschafft. Eine Erkältung, Sie hören es ohnehin noch, dazu diese Kälte, der Nebel, Wien im Winter, das hat mir die Kraft genommen, ich bin im Bett geblieben. Und heute … dass vielleicht noch etwas von dieser magischen Energie übrig geblieben ist, habe ich gehofft … um drei habe ich mich entschieden, den Bus zu nehmen, bis zur Hafenzufahrtsstraße, dann bin ich am Frachtenlager entlang Richtung Donau gegangen. Diese rostigen Getreidespeicher, und das alte Industriegebäude mit den eingeschlagenen Scheiben, da erwartet man jeden Moment das Gesicht von einem verfolgten Verbrecher, oder? Na, Sie vielleicht nicht. Diese Gegend hätten wir als Kinder kennen sollen, das wäre was gewesen für eine Mutprobe, da hinein traust du dich nicht, traust dich nie … nun gut, ich bin auf der Eisenbahntrasse weitergegangen, dort drüben, wo der Bärenklau und das ganze Unkraut wuchert, ich bin mit der Hand an eine Brennnessel angekommen und wieder auf den Schotterweg zurück. Zum Friedhof wollte ich zuerst gar nicht, aber dann … was mache ich hier, habe ich mich gefragt. Wo sich bei so
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