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Ohnmachtspiele

Ohnmachtspiele

Titel: Ohnmachtspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Haderer
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einem Wetter nicht einmal die üblichen Teenager hier aufhalten, mit dem Tod kokettieren … vielleicht gibt’s die auch gar nicht mehr … in Einkaufszentren und Bahnhöfe flüchten sie heutzutage … zu Recht … während ich hier versuche, was versuche … die Verzweiflung mit dem Grauen zu bezwingen … Drum die Kreuze die da ragen, wie das Kreuz das sie getragen, Namenlos. Nach ungefähr einer Viertelstunde habe ich den Friedhof verlassen und bin auf der Uferpromenade flussabwärts gegangen, der Nebel war schon so dicht, dass man die Bäume nur mehr als dunkle Umrisse wahrgenommen hat, irgendwie auch schön. Wissen Sie, woran ich denken musste, als ich den Kies unter meinen Schuhen knirschen hörte … an meinen Vater. Er hat mir immer wieder gesagt, dass man an den Schuhen den Charakter eines Mannes erkennt. Aber wenn man niemanden trifft, der einen Blick auf die Schuhe wirft, geschweige denn sich über den Zustand der Schuhe mokieren könnte? Das hat er wohl nie bedacht, der Herr Papa. Da vorne, wo Sie jetzt das Licht der Scheinwerfer sehen, führt ein Steg über ein schmales Rinnsal, das nach gut zehn Metern in die Donau fließt. Ich stehe also da, die Hände auf die Holzbrüstung gestützt, und schaue auf den Fluss. Dann, aus einer Laune heraus, gehe ich neben dem Bachbett zum Ufer vor; zwischen den großen Steinblöcken sehe ich eine orangefarbene Plastikente eingeklemmt. Der einzige Farbfleck weit und breit, so einsam, denke ich mir und bücke mich, um sie aufzuheben. Und da sehe ich sie. Zuerst ihre Haare, für einen Moment habe ich geglaubt, dass sich irgendein Abfall dort verfangen hat, dann treiben die Haare zurück und ich sehe ihr Gesicht, ganz weiß, darüber das Wasser wie eine grüne Folie, die Augen zu, und trotzdem habe ich das Gefühl gehabt, als würde sie mich ansehen. Ich springe auf, stolpere und falle auf den Hintern. Rappel mich auf und renne los. Ich habe mich immer wieder umgedreht; als könnte sie mir folgen, verrückt; von dem Gasthaus dort drüben habe ich Ihre Kollegen angerufen.“

2
    Als der Aufzug mit einem schweren stählernen Seufzer im vierten Stock zum Stehen kam, entschied sich Schäfer anders und nahm die Treppen. Vor dem Haus blieb er ein paar Minuten unter dem Vordach stehen. Er nahm sein Telefon heraus, deaktivierte die Lautlosfunktion und sah, dass sein Assistent Bergmann angerufen und eine Nachricht hinterlassen hatte. Kurz überlegte er zurückzurufen, dann steckte er das Handy wieder in die Mantelinnentasche. Er drehte sich zur Auslage des Spielwarengeschäfts hinter ihm um und sah sich die Stofftiere, die Holzeisenbahn, das Prinzessinnenset und die Titel der kleinformatigen Bücher an. Kindergärtner, hatte er vor etwa einer halben Stunde dem Therapeuten geantwortet, als der wissen wollte, ob sich Schäfer einen anderen Beruf als den des Polizisten vorstellen könnte. Er war selbst überrascht gewesen, mit welcher Selbstverständlichkeit ihm diese Antwort ausgekommen war. Kindergärtner. Wann hatte er denn zuletzt an diese Alternative zu seiner jetzigen Existenz gedacht? Sie bewusst in Betracht gezogen, nicht nur diesen Instinkt gespürt, wenn ihm irgendwo ein paar Kinder unterkamen, eine lärmende Ausflugsgruppe in der U-Bahn, eine Ansammlung auf der Straße, in Zweierreihe über einen Zebrastreifen, unter den geschäftigen Zurufen der Aufsichtspersonen. Auf der einen Seite die reine Unschuld, auf der anderen die deutlichste Form der Schuld, das Verbrechen, hatte der Therapeut angemerkt, und bei diesem Satz hatte er zum ersten Mal ein wenig Vertrauen zu diesem Mann gefasst, den zu besuchen er sich lange geweigert hatte. Wieso wehren Sie sich so dagegen, hatte Bergmann ihm zugeredet, wenn Sie angeschossen werden, greifen Sie ja auch nicht zu Küchenmesser und Beißzange und holen die Kugel selbst heraus. Eine Kugel, das war doch etwas anderes, die mochte ihm auch ein Loch in die Brust reißen, aber dieser diffuse Schmerz, den er nicht genau lokalisieren konnte, diese Hoffnungslosigkeit, diese Leere, wie sollte ihm die jemand nehmen können.
    Er wusste ja nicht einmal, wann genau sie von ihm Besitz ergriffen hatte. Dieser Dämon hatte sich unmerklich eingenistet, wie ein Parasit, der nun an ihm nagte und ihm seine Kraft entzog. Können Sie sich einen Ort vorstellen, an dem Sie glücklich wären, hatte ihn der Therapeut gefragt. Und es war ihm keine Antwort eingefallen. Eine Sehnsucht spürte er, eine Art Heimweh, die sich jedoch auf keinen konkreten Ort bezog.

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