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Ohnmachtspiele

Ohnmachtspiele

Titel: Ohnmachtspiele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Haderer
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nahm den Aufzug ins Dachgeschoss. Obwohl er seine Wohnung erst am frühen Nachmittag verlassen hatte und – abgesehen vom kurzen Fußmarsch an der Donau – keiner körperlichen Belastung ausgesetzt gewesen war, fühlte er sich erschöpft. Er sperrte die Wohnungstür auf, drückte den Lichtschalter, zog sich Schuhe und Jacke aus.
    Was für eine Arschkälte. Er sah auf den Thermostat der Gasheizung und fragte sich, wo die zweiundzwanzig Grad wären, die es anzeigte. Meister Einstein, auch die Temperatur ist relativ. Nachdem er sich einen dicken Wollpullover aus dem Schlafzimmer geholt hatte, setzte er sich auf den Fußboden vor der Stereoanlage und legte eine CD ein, die ihm seine Nichte Lisa aus Salzburg geschickt hatte. Er war ihr Taufpate, doch entgegen der üblichen Vereinbarung war sie es, die ihn immer wieder anrief und sich regelmäßig mit einer Zusammenstellung ihrer aktuellen Lieblingsmusik in Erinnerung brachte. Und damit jedes Mal sein schlechtes Gewissen freilegte, das kurz darauf wieder von seiner Arbeit und seiner Ignoranz zugemüllt wurde. Als er zuletzt in Tirol gewesen war, hatte er sich kein einziges Mal bei ihr gemeldet. Asoziales Arschloch, schimpfte er sich, stand auf und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu richten. Was kam da aus den Boxen im Wohnzimmer? Schubert? Welche Siebzehnjährige beginnt eine CD mit einem Schubertlied, fragte er sich, während er eine Pfanne auf den Herd stellte, die Platte anschaltete und zwei kleine Steaks aus dem Kühlschrank nahm. Barfuß auf dem Eise wankt er hin und her. Und sein kleiner Teller bleibt ihm immer leer. Ein wunderschönes Lied, aber doch todtraurig und … er selbst hätte als Teenager wahrscheinlich schon beim Gedanken an Schubertlieder Ausschlag bekommen, geschweige denn, dass er sie sich angehört hätte. Er goss Öl in die Pfanne und wartete, bis es kleine Bläschen warf. Während die Steaks brieten, richtete er einen grünen Salat an und schnitt zwei Tomaten auf. Kurz überlegte er, ob er eine Flasche Wein öffnen sollte, doch dann beließ er es bei einem Glas Wasser. Er setzte sich an den kleinen Küchentisch und aß wie immer in den letzten Wochen: ohne Appetit, aus Pflichtbewusstsein seinem Körper gegenüber, mit einer leichten Übelkeit nach der Mahlzeit. Danach stellte er den Teller in die Spülmaschine und ging mit einer Zigarette auf den Balkon, weil er sich das Rauchen in der Wohnung untersagt hatte. Ein seltsamer Kompromiss, den er mit sich selbst geschlossen hatte, nachdem sein Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören, wieder einmal gescheitert war. Dafür hole ich mir hier eine Lungenentzündung, murmelte er vor sich hin und verfluchte den November samt seiner Dunkelheit, dem Nebel, der Kälte und dem grausamen Wind.
    Wieder im Wohnzimmer, nahm Schäfer seinen Laptop, setzte sich auf die Couch, legte sich eine Wolldecke um die Schultern und fuhr den Computer hoch. Er loggte sich in den Polizeiserver ein und ging zu den Vermisstenmeldungen. Nach dem ersten Aufruf, einem elfjährigen Mädchen, das zuletzt an einer Bushaltestelle im zwölften Bezirk gesehen worden war, klappte er den Laptop wieder zu und legte ihn beiseite. Er nahm die Fernsehzeitung vom Couchtisch und sah sie auf Filme und Serien durch, die mindestens dreißig Jahre alt waren. Griff sich die Fernbedienung und schaltete auf einen Kanal, auf dem gerade eine Folge von „Magnum“ angefangen hatte. Mit Beginn der ersten Werbepause läutete das Telefon. Bergmann, der wieder einmal ein geradezu telepathisches Feingefühl für den richtigen Moment bewies.
    „Entschuldigen Sie, dass ich Sie jetzt noch anrufe“, sagte er, „aber wir wissen, wer die Tote ist.“
    „Und?“
    „Sonja Ziermann. Ihr Mann hat uns informiert, weil sie nicht nach Hause gekommen ist und er sie schon den ganzen Abend nicht erreichen konnte.“
    „Hat er sie identifiziert?“
    „Auf dem Foto. Ich bringe ihn jetzt zu ihr. Wollen Sie heute noch mit ihm reden?“
    „Nein … das machen Sie besser. Wie wirkt er?“
    „Er hat in der letzten halben Stunde vielleicht zwei Minuten nicht geweint.“
    „Haben Sie jemanden vom Notdienst gerufen?“
    „Ja, muss jeden Moment hier sein.“
    „Gut … wollen Sie die Befragung heute noch machen?“
    „Soll ich?“
    „Das überlasse ich Ihnen. Schauen Sie aber auch auf sich selbst, Bergmann. Sie müssen nicht durcharbeiten, nur weil uns die Leute fehlen.“
    „Ich weiß. Kommen Sie morgen?“
    „Das haben Sie mich heute schon gefragt … ja, ich bin

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