Ohnmachtspiele
Florian teilen konnte. Dann war die Welt in Ordnung.
„Weiß ich doch nicht … was können wir schon groß tun.“ Florian wandte sein Gesicht ab, spuckte in den betonierten Zulauf, in dem sich ein Rinnsal mühsam durch die abgefallenen Blätter kämpfte.
„Wir könnten abhauen“, meinte sein Freund unsicher und für einen Moment hellte sich seine Miene auf, als hätte er die Lösung aller Probleme gefunden.
„Bist du schwul oder wie … abhauen kann man mit seiner Freundin oder allein. Vergiss es.“
„Aber …“
Wieder schwiegen sie für einige Minuten. Auf dem Spazierweg hinter ihnen machte sich eine Kindergartengruppe vom Spielplatz am anderen Ende des Parks auf den Weg nach Hause, ihr vielstimmiges Geschrei zu einer schwarmhaften Geräuschwolke vermengt. Kurz drehten sie sich beide um, betrachteten die kreischenden Zwerge, die beiden Kindergärtnerinnen, die ihre Schützlinge wie eine Schar Gänse zum Ausgang des Parks leiteten. Oh heile Welt. Sie wandten ihre Gesichter wieder dem Teich zu, wo ein Entenpaar vorbeischwamm und die Schnäbel wiederholt zwischen die treibenden Blätter tauchte. Florian hob seinen Arm, bildete mit Daumen und zwei Fingern eine Pistole nach, kniff ein Auge zu und zielte auf die Enten.
„Bamm, tot“, flüsterte er und ließ den Arm wieder sinken.
„Haben deine Eltern gesagt, wie lang ihr dortbleiben werdet?“, fragte sein Freund, bemüht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.
„Zwei, drei Jahre … das wissen sie ja selber nicht genau … wie immer …“ Er griff neben sich, nahm einen faustgroßen Stein und schleuderte ihn ins Wasser hinaus. „Blöde Schweine … aber mir wird schon was einfallen.“
Was?, wollte sein Freund wissen, doch die Frage blieb ihm im Hals stecken, was sollte ihm denn einfallen? Doch er musste ihm vertrauen, vielleicht gäbe es wirklich eine Lösung, die sich er, der Jüngere, nicht ausmalen konnte, weil er nicht fähig war, sich eine Vorstellung von der Zukunft zu machen, da waren nur die nächsten Wochen, die Schule, kein Florian, ein trüber Nebel, durch den er sich angstvoll tasten musste, außer seinem Großvater hatte er jetzt niemanden mehr. Jetzt sah Florian auf seine Armbanduhr, die sein dünnes Handgelenk umgab wie eine schwere klobige Handschelle. Firmungsgeschenk, sicher ein paar tausend Schilling wert, einmal hatten sie sogar überlegt, sie zu verkaufen. An Geld hatte es ihnen ja nie gefehlt. Das hatte Florian zur Genüge von seinen Eltern bekommen und ohne mit der Wimper zu zucken für sie beide ausgegeben. Aber das Geld würde ihm nicht abgehen.
„Ich muss dann langsam …“
„Ja“, antwortete der andere leise.
„Bleibst du noch?“, fragte Florian und stemmte sich in die Hocke.
„Ja.“
„Na dann …“, meinte der Ältere und stand auf.
„Lass mal was hören von dir“, sagte der Jüngere und versuchte ein Lächeln.
„Sicher“, erwiderte sein Freund, zögerte kurz, drehte sich um und ging.
Der Junge ließ ein paar Sekunden verstreichen und wandte ruckartig seinen Kopf nach hinten. Dann legte er sich auf den Rücken, schaute in den Himmel und krallte die Finger in den steinigen Boden.
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„Sie werden bald wissen, wer diese Frau ist. Werden Sie doch, oder? Ich meine, mit den technischen Hilfsmitteln, die Ihnen heute zur Verfügung stehen … früher … nicht weit von der Stelle, wo ich sie … da sind früher immer wieder Leichen angespült worden … vor der Hafenregulierung … ich führe ein Antiquariat in der Währinger Straße, habe Geschichte studiert und diese Gegend hier … tagelang im Wasser sind die oft getrieben, aufgedunsen und entstellt … das Leichenwachs, die Fische, Flussaale und andere Tiere … was die mit einem Toten im Wasser anstellen, muss ich Ihnen ja nicht sagen. So viele Menschen, von denen man nicht gewusst hat, wer sie waren, woher sie gekommen sind oder was ihren Tod verursacht hat … Namenlose … vielleicht Verzweifelte, die sich irgendwo zwischen dem Alpenvorland und Wien nur mehr fallen lassen haben können, oder Betrunkene, die über die Uferböschung gestürzt sind … sicher waren auch Verbrechensopfer dabei, die auf diese Weise entsorgt worden sind. Da hat deren Schicksal wohl schon zu Lebzeiten kaum einen interessiert; und dann wird selbst das Wasser ihrer überdrüssig und spuckt sie hier an Land … da habt ihr sie wieder, schaut sie euch an, was aus euch allen einmal wird, ja, die Donau, wer sie kennt, hört nicht nur den verklärenden Walzer. Sie sind so
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