Ohnmachtspiele
Höchstens auf einen Nichtort, wo ihm dieser ganze Mist erspart bliebe. Vielleicht lag er deshalb seit fast einem Monat die meiste Zeit auf seiner Couch. Vier Wochen Krankenstand, was seine Kollegen wohl von ihm dachten. Dass ihm nun endgültig die Sicherungen durchgebrannt waren? Wenn es wenigstens warm wäre und er den Kopf in die Sonne halten könnte. Er drehte sich um und sah den Passanten zu, die ihre Mantelkrägen über das Kinn schlugen, den Gehsteig entlanghasteten, als Fluchtweg ins Warme und Trockene. Wer jetzt kein Zuhause hat, ist ein armes Schwein.
Er nahm sein Handy heraus und hörte Bergmanns Nachricht ab. Nach einer kurzen Einleitung, in der sich sein Assistent dafür entschuldigte, dass er ihn während des Krankenstands anrief, kam er auf den eigentlichen Grund seines Anrufs: Sie hatten eine Wasserleiche beim Alberner Hafen. Und wenn Schäfer sich vielleicht schon besser fühlte – oder möglicherweise sogar langweilte –, wäre er willkommen, sie beim Lokalaugenschein zu unterstützen. Schäfer legte auf und seufzte. Vor ein paar Monaten hätte ihm eine Nachricht wie diese wahrscheinlich geschmeichelt. Er, der Major, auf den Bergmann in fachlicher als auch emotionaler Hinsicht nicht verzichten wollte. Doch zurzeit waren andere Beweggründe wahrscheinlicher: Abgesehen davon, dass eine schlimme Grippewelle auch die Polizei nicht verschonte, hatte ihnen der Innenminister mit seiner hirnrissigen Reform in allen Ressorts Leute weggenommen. Und dort, wo eigentlich Führungskräfte mit langer kriminalistischer Erfahrung hingehörten, saßen zunehmend Politpolizisten – Karrieristen und Günstlinge, die kaum etwas von Polizeiarbeit verstanden. Darunter litt nicht nur die Aufklärungsquote, auch die Stimmung in den Dienststellen war am Boden, wie Schäfer in den letzten Monaten wiederholt hatte feststellen müssen. Dass sich der Innenminister und sein ebenso unfähiger Vollstreckungsgehilfe, der Polizeipräsident, in den Medien als die Retter der Polizei darstellten und sich gleichzeitig so gut wie nie in die Kommissariate trauten, sprach für sich. Dort erwartete sie ein Haufen frustrierter, überarbeiteter und bewaffneter Menschen … verdammte Arschlöcher, dachte Schäfer, wenn die beiden einer abstechen sollte, würde er sich bestimmt nicht überanstrengen, den Täter zu fassen. So ähnlich hatte er sich übrigens auch einmal in der Kantine laut geäußert, worauf er nur knapp einer Disziplinaranzeige entgangen war. Sollten sie ihn doch feuern, sollten sie ihm doch die Entscheidung abnehmen.
Er überlegte, wie er am schnellsten zum Alberner Hafen gelangen konnte. Als er auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Streifenwagen erblickte, der an einer roten Ampel hielt, lief er hinüber, klopfte an die Scheibe des Beifahrers und zog seinen Ausweis heraus. Der Uniformierte ließ die Scheibe herunter.
„Servus, Kollegen, Schäfer, Kriminaldirektion“, stellte er sich vor, „seid ihr im Einsatz oder könnt ihr mich schnell wo hinfahren?“
„Jederzeit, Herr Major … steigen Sie ein.“
Schäfer setzte sich auf die Rückbank und teilte der Fahrerin mit, wohin er wollte.
„Die tote Frau?“ Die Beamtin sah ihn im Rückspiegel an und fuhr los.
„Ja … eine tote Frau.“
Als sie den Parkplatz am Ende des Hafengeländes erreichten, standen dort ein Einsatzwagen, ein Kleinbus und ein weiteres Zivilfahrzeug – ein schwarzer Mercedes, den Schäfer am Nummernschild als den Dienstwagen von Oberst Kamp erkannte. Was wollte der bei einem derart unspektakulären Fall? Schäfer öffnete die Wagentür, bedankte sich bei den Beamten und stieg aus. Das Gelände war großräumig abgesichert worden, wie er an dem Absperrband sah, das sich von einem Metallständer am Parkplatz zum Friedhof und bis in das kleine Waldstück dahinter zog. Korrekt wie immer, der Bergmann. Schäfer ging auf den Polizisten zu, der rauchend neben dem Kleinbus stand. Auf dessen Rücksitz saß ein Mann um die vierzig, blass, mit einem abwesenden Gesichtsausdruck.
„Wer ist das?“, fragte Schäfer den Beamten, nachdem er ihm seinen Ausweis gezeigt hatte.
„Der hat die Frau gefunden.“
Schäfer schob die Wagentür auf, stellte sich vor und setzte sich neben den Mann.
„Nicht sehr schön … so was zu sehen“, begann er das Gespräch.
„Nein … aber schon seltsam … jetzt geht es mir … besser.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Dass …“, der Mann zögerte, sah Schäfer an und musste plötzlich lachen.
Weitere Kostenlose Bücher