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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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sie sich wieder – und nicht zum ersten Mal – darüber hinweg. Zweimal schon war sie buchstäblich mit dem Kopf durch die Wand gegangen und heimlich abgehauen. Nach dem Gespräch mit Oksa steuerte sie geradewegs die Speisekammer neben der Küche an, die auf einen Hof hinter dem Haus hinausging. Dann trat sie mit der größten Selbstverständlichkeit durch die roten Backsteine hindurch. Draußen war es schon fast dunkel, das Licht am Himmel schwankte zwischen Blau und Aschgrau. Zoé atmete tief und langsam, um ihr Herz, das wie wild klopfte, zu beruhigen. Sie dachte an Gus, und anstatt sich zu beruhigen, wurde ihr Herz bleischwer. Wieso sollte sie sich noch weiter abmühen? Gus war nicht für sie bestimmt und würde es nie sein, das wusste sie. Bestenfalls würde er sich ihr anvertrauen, wie er es in den letzten Tagen getan hatte. Zunächst hatte Gus gezögert, ihr sein Herz auszuschütten. Erst nach und nach hatte er ihr erzählt, was ihn bedrückte. Doch dann war ihre Beziehung einfacher, selbstverständlicher geworden. Seine Klassenkameradin – denn das war sie für ihn gewesen, nicht mehr und nicht weniger – war zu einer Freundin für ihn geworden. Seither war alles anders: Je besser sie ihn kannte, desto mehr schwand ihre Hoffnung, dass er sie je lieben könnte. Und ihre Enttäuschung darüber wich großem Kummer. Noch mehr Kummer! Erneut blickte sie zum Himmel auf. Sie sah Gus’ Gesicht vor sich, stellte ihn sich vor, wie er traurig und allein durch die Straßen lief. Zoé versuchte, die Gedanken an ihn zu verdrängen, und wandte sich dem Hyde Park zu, wo derjenige sie erwartete, in dessen Händen ihr Schicksal nun lag.
    Der Park war nur spärlich beleuchtet, die Bäume warfen lange Schatten. Trotzdem fürchtete Zoé sich nicht. Seit einigen Monaten schreckte sie nichts mehr, weil alles, was sie je befürchtet hatte, schon eingetreten war: Sie hatte die Menschen verloren, die sie am meisten liebte. Als sie begriffen hatte, dass sie ihre Eltern nie mehr sehen würde, war ihr Herz in tausend Stücke zersprungen. Betäubt von ihrem Schmerz, jedoch kerzengerade war sie am Tag der Beerdigung in die Kirche gegangen. Es war ganz so gewesen, als ginge sie all das nichts an. Als wäre es nicht wirklich. Sie würde aufwachen, die Augen öffnen, ihre Mutter hören, die die Radionachrichten kommentierte, und ihren Vater, der versuchte, sie zum Stillsein zu bringen. Sie würde aufwachen, und alles wäre wieder wie immer. Davon war sie überzeugt gewesen … Doch nichts war wieder so geworden wie zuvor. Und dann war Remineszens ebenfalls verschwunden, und unstillbarer Schmerz hatte in ihrem Leben Einzug gehalten. Sie fühlte sich wie erstarrt. Einzig Gus und Oksa hatten ein paar Breschen in ihren Panzer schlagen können. Wie sehr Zoé sie liebte … sie beide. Jeden auf seine Weise und vor allem trotz der McGraws und ihres unerbittlichen Hasses auf sie. Die Pollocks und die übrigen Rette-sich-wer-kann hatten sie ohne jeden Vorbehalt in ihren Kreis aufgenommen. Sie hatte entdeckt, dass Glück für sie nicht unerreichbar war. Die Rette-sich-wer-kann … dank ihnen war ihre Großmutter aus dem Gemälde befreit worden und zu Zoé zurückgekommen. Es war eines der seltsamsten Ereignisse in ihrem ganzen Leben gewesen. Und eines der lehrreichsten: Es lehrte sie, dass die Macht des Blutes groß ist, das Herz jedoch den Ausschlag gibt. Es entscheidet, wohin es sich wendet und wem es sich anschließt. Remineszens war – trotz ihrer Abstammung – ihren Rettern bedingungslos ergeben, und das nicht nur wegen der Entgemäldung. Es war eine tiefe seelische Verbundenheit: Remineszens war eine Rette-sich-wer-kann aus Überzeugung. Um nichts in der Welt würde sie sich den Treubrüchigen anschließen. Das hatte Zoé in den ersten Stunden nach der schrecklichen Enthüllung der Alterslosen begriffen.
    Zoé hatte ihre Zweifel über ihre eigene Zugehörigkeit niemandem gegenüber erwähnt. Insgeheim fühlte sie sich zerrissen. Und dass sie nun über ihre Abstammung Bescheid wusste, machte es ihr nicht leichter, im Gegenteil. Sie war eine Huldvolle-Handkräftige-Mauerwandlerin, die nirgendwohin gehörte. Oder vielmehr, die sich zwei Seiten zugehörig fühlte.
    Sie lief im Dunkeln auf eine Gruppe von Bäumen zu, unter denen hohes Gras wuchs. Es war die verwildertste Ecke des ganzen Parks, die Natur schien sich dort freier zu entfalten als sonst irgendwo. Ein kräftiger Wind wehte, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen. Zoé

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