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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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zart mit dem Finger über die Wange strich, stieß sie ihn nicht zurück. Seine sanfte Berührung war ungemein tröstlich.
    »Vergiss nicht, dass du die Stärkste von allen bist«, flüsterte er ihr ins Ohr.
    Kummer und Rührung, Angst und Erregung flossen in Oksas Herz zusammen. Sie dachte an Leomido, an ihre Mutter, an das Schicksal der Rette-sich-wer-kann, und ihr Geist tauchte in eine eisige Finsternis ab. Gleichzeitig spürte sie Tugduals Berührung, die Tausende kleiner heißer Bläschen in ihr zum Platzen brachte. Und seltsamerweise schlossen sich die beiden Empfindungen nicht aus, im Gegenteil: Sie verstärkten sich gegenseitig. Oksa schloss die Augen, griff nach Tugduals Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen.
    »Kleine Huldvolle«, flüsterte Tugdual und legte seine Wange an ihre.
    Mit der anderen Hand zog er ihren Kopf an seine Schulter und streichelte ihr Haar. Ein Schluchzer entrang sich Oksas Kehle, und sie schmiegte sich an ihn. Tugdual hielt sie fester, nahm sie in beide Arme und tauchte das Gesicht in ihre Haare.
    »Oksa! Das musst du sehen, komm mit! Oh! Entschuldigung!«
    Mit offenem Mund blieb Gus in der Tür stehen, als er Oksa in Tugduals Armen sah. Die Klinke in der Hand, stand er da, unfähig, sich zu rühren.
    »Kannst du nicht anklopfen, bevor du reinkommst?«, schrie Oksa mit hochrotem Gesicht.
    »Entschuldigung … tut mir leid …«, stammelte er. »Es tut mir furchtbar leid.«
    »Geh weg!«
    Gus taumelte zurück. Brennender Schmerz durchfuhr ihn, breitete sich in seinem ganzen Körper aus und trübte seinen Blick. Entsetzt über ihre eigene Reaktion, fing Oksa vor Wut und Scham zu zittern an. Sie wollte sich aus Tugduals Umarmung befreien, doch anstatt nachzugeben, hielt er sie nur umso fester. Sie kam nicht gegen ihn an. Da verbarg sie ihr Gesicht mit einem wütenden Stöhnen an Tugduals Hals, als wolle sie unsichtbar werden. Sie hörte die Zimmertür zuknallen. Gus’ Schritte entfernten sich über den Flur.
    »Was habe ich nur getan?«, flüsterte sie.
    Statt einer Antwort nahm Tugdual ihren Kopf in beide Hände und hob ihn hoch. Ein seltsames Lächeln lag auf seinem Gesicht. Oksa fühlte sich verloren, sie schloss die Augen. Sie brauchte nicht lange zu warten: Einen Augenblick später legten sich Tugduals Lippen auf ihren Mund. Sein zarter Kuss stürzte sie in unaussprechliche Verwirrung.

Das Herz der Welt
    O
ksa stand reglos auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock und lauschte den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer drangen. War auch die von Gus darunter? Sie konnte kaum glauben, wie sie sich ihm gegenüber verhalten hatte. Aber sie hatte sich so danach gesehnt, mit Tugdual allein zu sein … Sie musste aufhören, sich zu schämen. Sie hatte nichts Böses getan und würde sich einfach bei Gus entschuldigen.
    Oksa nahm sich zusammen, ging die Treppe hinunter und betrat das Wohnzimmer. Niemand bemerkte sie, alle starrten wie gebannt auf die Weltuntergangsbilder im Fernsehen. Der Nachrichtensprecher erklärte gerade mit dumpfer Stimme, dass in Südfrankreich ein Unwetter von unerhörter Stärke gewütet habe. Die Blitze seien derart zahlreich gewesen, dass die Messinstrumente explodiert seien. Die Côte d’Azur sei völlig verwüstet worden. Es habe Hunderte von Toten gegeben, und der Wiederaufbau würde Jahre dauern. Leise trat Oksa näher an den Bildschirm heran, völlig erschüttert von dem, was sie sah. Sofort drehten alle den Kopf zu ihr: Dragomira, Abakum, Remineszens, Zoé, die Knuts, die Bellangers … alle außer Gus, der den Blick krampfhaft auf den Fernseher gerichtet hielt. Warum sahen alle sie so an?
    »Was ist denn?«, rief sie mit einer ohnmächtigen Geste. »Ich kann doch nichts dafür!«
    »Zum Glück«, grummelte Gus.
    »Was ist passiert?«, fragte Oksa zögerlich.
    Abakum stand auf und schaltete den Fernseher aus.
    »Der Gang der Dinge beschleunigt sich«, sagte er ernst.
    »Was bedeutet das?«, fragte Oksa.
    Abakum ließ sich in einen Sessel fallen und strich sich mit sorgenvoller Miene über den kurzen Bart.
    »Seit Jahrhunderten schon zerstören die Von-Draußen die Erde, obwohl sie ihr wertvollstes Gut ist«, sagte er. »Die Lage ist ernst, aber noch könnte man die erlittenen Schäden wiedergutmachen. Die Naturkatastrophen der vergangenen Monate haben allerdings nichts mit der Verantwortungslosigkeit der Menschen zu tun. Die ganzen Vulkanausbrüche, die Stürme, die Erdbeben …«
    Der alte Mann verstummte.
    »Abakum?«, fragte Oksa ungeduldig.
    »Die

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