Oksa Pollock. Die Entschwundenen
ausrichten. Und gegen meinen Bruder letztlich auch nicht … Er sah mir in die Augen, dieses Ungeheuer, und sagte mit eisiger Stimme: ›Adieu, Schwester. Wie schade, dass du einfach nicht verstehen wolltest.‹ Er ergriff meine verletzte Hand und ließ einen Tropfen Blut aus meiner Handfläche auf die Leinwand fallen. Die Farben darauf formten sich zu einer Spirale. Orthon stieß mich gegen die Leinwand, und ich wurde sofort eingesogen. Das Herz-Erforsch hatte mich anstelle meines Zwillingsbruders eingemäldet.«
»Dieser erste Irrtum hat das Herz-Erforsch ziemlich durcheinandergebracht«, fuhr jetzt wieder der Schmetterling fort. »Es war das allererste Mal, dass ihm so ein Fehler unterlaufen war. Das Hauptproblem bestand nun darin, die Prüfungen zu verändern. Sie waren alle für Orthon ausgewählt worden, nicht für Remineszens, auch wenn sie seine Zwillingsschwester war. Das Ganze wurde noch dadurch erschwert, dass Remineszens keines einzigen Vergehens bezichtigt werden konnte, das eine Eingemäldung gerechtfertigt hätte. Kurzum, sie war eigentlich gar nicht eingemäldbar! Also hat das Herz-Erforsch sein Möglichstes getan, um seinen Fehler wiedergutzumachen und Remineszens zu entgemälden. Doch einzig und allein eine Huldvolle besitzt dazu die Macht. Und Huldvolle laufen nicht gerade in Scharen herum, wenn ich das einmal so salopp sagen darf. Als das Herz-Erforsch die Gegenwart einer Huldvollen im Chemiesaal der St.-Proximus-Schule spürte, schöpfte es neue Hoffnung. Es tat alles Mögliche, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken, doch die Huldvolle war nie allein, was ihre Eingemäldung unmöglich machte. Eines Tages schien sie dann doch allein in dem Raum zu sein. Es dauerte nur ein paar Sekunden, und sie war eingesogen.«
»Wie nett vom Es, mich mit Oksa zu verwechseln!«, murmelte Gus und schnitt eine Grimasse. »Es scheint ja wirklich komplett durch den Wind zu sein.«
»Es hat nicht dich wahrgenommen«, erklärte der Schmetterling, »sondern nur die Utensilien der Huldvollen. Ihr Granuk-Spuck und ihre Schatulle haben dich sozusagen überlagert. Und dieser erneute Irrtum war zu viel für das Herz-Erforsch.«
Der Schmetterling schlug heftig mit den Flügeln und setzte sich auf Oksas Schulter. Die Junge Huldvolle spürte den raschen Atem des Insekts an ihrem Hals und schauderte.
»Tja, tut mir echt leid«, murmelte Gus. »Ich hätte nicht mit der Tasche durch die Gegend laufen sollen. Das ist alles meine Schuld, ich bin wirklich ein totaler Versager …«
»Na prima!«, entfuhr es Oksa, und ihre Augen funkelten vor Zorn. »Wie schön, dass du uns endlich mal wieder mit deiner Ich-bin-ja-so-ein-Versager-und--an-allem-schuld-Nummer beglückst! Ich hatte sie schon richtig vermisst! Willst du vielleicht noch eine Peitsche dazu, um dich selbst zu geißeln? Wenn das Herz-Erforsch dir dabei helfen könnte, dieses Problem endlich mal zu lösen und dich davon zu überzeugen, dass du nicht an allem schuld bist, dann wäre das für uns alle eine ziemliche Erleichterung, das kannst du mir glauben.«
Sie legte sich die Hände wie einen Trichter um den Mund und schrie aus vollem Hals: »Herz-Erforsch, wenn du mich hörst, mach doch bitte was! Wir halten es nämlich nicht mehr aus!«
Gus war vor Wut und Scham feuerrot angelaufen. Er drehte sich um und stiefelte davon, lief blindlings in den Gang hinein. Pierre folgte ihm sofort, während Oksa sich erschrocken auf die Lippe biss. Nun war sie wohl doch zu weit gegangen. Aber Gus konnte einen auch wirklich auf die Palme bringen! Wann würde er endlich mal ein wenig Selbstvertrauen entwickeln? In diesem Moment hallte ein Aufschrei durch die Höhle. Er kam aus dem finsteren Gang, in dem Gus und sein Vater verschwunden waren.
Die Sirenen der Lüfte
F
ür einen Moment standen alle wie erstarrt, dann stürzten sie los. Abakum betrat als Erster mit festem Schritt den Gang, begleitet von der Phosphorille, die ihm den Weg ausleuchtete. Erneut erklang ein angstvoller Schrei.
»Lasst uns in Ruhe! Haut ab!«
Oksa erkannte Gus’ Stimme. Was hat er denn jetzt wieder?, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. Der Junge hatte wirklich ein Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Doch es half ja nun mal alles nichts. Sie fasste den Kapiernix bei der Hand und folgte mit ihm zusammen den anderen in den engen Tunnel. Tugdual erwartete sie.
»Du sollst nicht allein bleiben!«, sagte er vorwurfsvoll. »Das ist unvorsichtig. Entferne dich niemals von uns, hörst
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