Oksa Pollock. Die Entschwundenen
nicht von ihr kannte. Ich hätte wachsamer sein und mir ein paar Fragen stellen müssen …«
»Mach dir keine Vorwürfe, Dragomira«, versuchte Brune sie zu beschwichtigen. »Wie hättest du denn darauf kommen sollen, dass sie eine Treubrüchige ist? Sie war von jeher deine Freundin und sie hat dir und Malorane einst die Treue geschworen!«
»Allerdings!«, stimmte Dragomira verbittert zu. »Aber ich hätte es erkennen müssen. Ich hätte merken müssen, dass da etwas vor sich ging!«
»Mercedica wusste, dass wir heute Abend zu Abakum fahren, um bei ihm zu Hause nach dem Rechten zu sehen«, fuhr Brune fort. »Diese Gelegenheit hat sie ausgenutzt. Sie hat uns eiskalt hereingelegt!«
»Wenn sie mir noch mal über den Weg laufen sollte, dann garantiere ich für nichts, das sage ich euch!«, donnerte Naftali. In seinen Augen loderte der Zorn.
»Es tut mir so leid«, hauchte Dragomira.
»Es ist nicht deine Schuld!«, wiederholte Brune, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.
»Und Marie?«, fragte Dragomira zaghaft.
Brune biss sich auf die Lippe und blickte Hilfe suchend Naftali an. Anstatt einer Antwort drückte sie die Hand ihrer Freundin noch fester.
»Sie haben sie mitgenommen, nicht wahr?«, sagte Dragomira mit gebrochener Stimme.
Brune schaute sie mit Tränen in den Augen an und brachte kein Wort heraus. Dragomira schluchzte auf, und ihr Gesicht verzerrte sich vor Qual. Die klitzekleine Hoffnung, an die sie sich noch geklammert hatte, war dahin.
»Es ist alles meine Schuld!«, stammelte sie zwischen zwei Schluchzern. »Ich dachte, ich könnte es allein mit ihnen aufnehmen … Ich bin doch nur eine alte, mitleiderregende Irre …«
Brune, die selbst gegen die Tränen kämpfte, unterbrach sie.
»Der Plemplem hat mir alles erzählt, und du hattest den richtigen Instinkt: Indem du die Leinwand woanders versteckt hast, hast du eine noch größere Katastrophe verhindert. Ich hätte genau wie du gehandelt.«
»Aber wo ist es denn, Dragomira? Wo ist das Gemälde?«, fragte Naftali.
»Naftali, Dragomira wird es uns nicht sagen!«, antwortete Brune mit fester Stimme.
Naftali und Dragomira sahen sie erstaunt an.
»Sie soll es uns überhaupt nicht sagen!«, fuhr Brune fort. »Das Geheimnis ist wie eine Lebensversicherung für sie. Wenn nur sie allein weiß, wo das Gemälde ist, können die Treubrüchigen ihr nichts tun. Und außerdem garantiert es auch unsere Sicherheit.«
»Du hast vollkommen recht, meine liebe Brune«, murmelte Dragomira.
»Allerdings wird Marie nun als Tauschobjekt herhalten müssen, fürchte ich«, sagte Naftali. »Diese Dreckskerle haben jetzt das beste Druckmittel in der Hand, das sie sich wünschen können. Und wir wissen, was sie im Gegenzug dafür fordern werden.«
»Marie gegen Oksa«, stieß Dragomira hervor und begrub das Gesicht in den Händen.
»Aber da kennen sie uns schlecht«, knurrte Naftali. »Heute mögen die Treubrüchigen uns gegenüber im Vorteil sein – und es ist ein gewaltiger Vorteil, das muss ich zugeben. Aber sobald Oksa wieder an unserer Seite ist, werden die Karten neu gemischt. Wir sind zwar geschwächt, aber wir sind dennoch in der stärkeren Position. Oksa ist der alles entscheidende Faktor, und selbst der skrupelloseste Treubrüchige kann gegen unsere Unverhoffte nichts ausrichten. Vergesst das nicht!«
Bekenntnisse in der Höhle
T
otenstille herrschte in der Höhle. Eine dunkle Masse verschloss jetzt den Eingang. Den Rette-sich-wer-kann hatte es die Sprache verschlagen, sie standen unter Schock.
»Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich mal von der Leere verfolgt würde …«, flüsterte Oksa. »Brrr, da läuft es einem eiskalt den Rücken hinunter. Ich hasse dieses … dieses Ding da.«
Sie drehte sich zu ihrem Vater um. Pavel saß zusammengekauert im hintersten Winkel der Höhle. Er hatte die Beine an den Körper gezogen und verbarg das Gesicht auf den Knien. Ein leises Stöhnen drang aus seiner Brust. Alle schauten Oksa an. Abakum legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter. »Geh zu ihm, Oksa.«
Oksa warf ihm einen zweifelnden Blick zu, befolgte aber schließlich seinen Rat. Sie ließ sich neben Pavel an der rauen Höhlenwand zu Boden gleiten. Ohne sie anzusehen, legte Pavel den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich, als wolle er sie einladen, den Kopf an seine Schulter zu lehnen.
»Papa … was ist denn los mit dir?«, fragte sie schließlich im Flüsterton. »Ist es wegen deines Tintendrachen?«
Pavel zuckte zusammen, als
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