Oksa Pollock. Die Entschwundenen
vor sich hin schmunzelte.
Tugdual hatte den Blick zum Himmel gerichtet.
»Sich von etwas beherrschen zu lassen bedeutet, geradewegs in sein eigenes Unheil zu rennen«, erwiderte er. »Wenn man aber das, was einen zu dominieren droht, kontrollieren kann, dann ist man stärker als alle anderen.«
Oksa runzelte die Stirn.
»Ich habe das Gefühl, die Kleine Huldvolle braucht ein Beispiel«, fuhr Tugdual fort und schien sich dabei köstlich zu amüsieren. »Nehmen wir mal ein Gefühl, das eine ziemlich große Kraft hat, uns zu beherrschen: die Liebe. Wenn man sich diesem Gefühl hingibt, kann das sehr gefährlich werden, weil man ihm dann ausgeliefert ist. Wenn man es dagegen überwinden kann, also ungeachtet dieses Gefühls weiter seinen Weg geht – na, dann bravo! Dann ist man unbesiegbar!«
»Mag sein«, gab Oksa zu. »Aber das muss furchtbar wehtun!«
»Und ob«, bestätigte Tugdual. »Sonst wäre es ja auch viel zu einfach! Das Leben ist nun mal kein Zuckerschlecken …«
»Das vergisst man auch nicht, wenn man dich dabeihat!«, brummte Oksa. In diesem Augenblick kam der schwarze Schmetterling herbeigeflattert.
»Junge Huldvolle, Rette-sich-wer-kann, ich muss Euch etwas zeigen«, verkündete der geflügelte Kundschafter. »Ich glaube, ich habe den Durchgang zur nächsten Schicht gefunden.«
Wenig verlockende Aussichten
O
ksa sprang sofort auf und folgte ihm, ebenso wie die anderen. Der Schmetterling führte die kleine Gruppe am Teich entlang bis vor den Wasserfall.
»Hier ist es.«
Abakum streckte den Kopf vor und schaute angestrengt.
»Ich sehe nichts.«
»Ihr müsst den Kopf hindurchstecken. Euch wird nichts passieren, solange Ihr einen sicheren Stand habt.«
Abakum ließ sich von Leomido und Pierre festhalten und streckte, der Anweisung des Schmetterlings folgend, den Kopf durch den Wasserfall hindurch. Das Wasser platschte kübelweise auf seinen Rücken und spritzte auch die Umstehenden nass. Wenige Augenblicke später zog Abakum den Kopf wieder zurück.
»Und?«, fragte Oksa sofort.
Abakum wischte sich kurz das Wasser aus dem Gesicht. Dann wandte er sich mit bedrückter Miene an die anderen.
»Ich fürchte, meine Freunde, dass wir all unsere Kraft und unseren Mut zusammennehmen müssen, um die nächste Prüfung zu bestehen.«
»Kann ich es auch sehen?«, fragte Oksa.
»Sicher«, erwiderte Abakum matt.
Während ihr Vater und Tugdual sie festhielten, beugte sich Oksa nach vorn und streckte nun ihrerseits den Kopf durch den Wasservorhang hindurch. Dass das Wasser mit voller Wucht auf ihre Schultern trommelte, vergaß sie, sobald sie die schreckliche Landschaft erblickte, die sich vor ihren Augen bis zum Horizont ausbreitete: eine mit grauem, fast schwarzem Staub bedeckte Ebene, über die heftige Ascheböen fegten. Über dieser lebensfeindlichen Einöde zuckten Blitze am düster gemaserten Himmel und ließen in ihrem unheimlichen Licht tiefe Spalten in der Erde erkennen. Erschrocken zog Oksa den Kopf zurück und blinzelte im hellen Licht des kleinen Paradieses, das mehr denn je diesen Namen verdiente.
»Das ist ja … furchtbar«, stammelte sie.
»Das ist der Schoß der Ödnis«, erklärte der Schmetterling.
Oksa bemerkte, wie Remineszens und Gus ängstliche Blicke austauschten. Ihr war bewusst, dass die beiden, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die Schwächsten in der Gruppe waren. Es tat weh zu sehen, wie ausgezehrt Remineszens von dem langen Umherirren im Gemälde war, wie ihre Entschlossenheit allmählich den Strapazen zum Opfer gefallen war. Ihre Züge wirkten matt, die Lippen waren aufeinandergepresst, und sie klammerte sich an Leomidos Arm wie an einen Rettungsanker. Wie sollte sie nur in diesem feindseligen Territorium, das sie alle hinter dem Wasserfall erwartete, durchhalten? Und Gus? Trotz seiner Jugend war er, bei genauer Betrachtung, am meisten gefährdet. Remineszens mochte am Ende ihrer Kräfte sein, aber sie war immer noch eine Handkräftige und dazu noch eine Mauerwandlerin. Gus hingegen war ein Von-Draußen. Das war ein gewaltiger Unterschied. Er besaß keinerlei magische Fähigkeiten und war vollkommen auf die Hilfe der anderen angewiesen. Oksas Blick fiel auf das Grab der Plempline. Ein Schauder durchlief sie. Als ob er ihre Gedanken hätte lesen können, trat Abakum zu ihr.
»Vor uns liegt große Gefahr und quälende Ungewissheit«, sagte er behutsam. »Es ist ganz normal, wenn dir bange ist. Aber denk daran, dass wir einiges aufzubieten haben: deinen Vater
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