Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Vater verzog erneut vor Schmerz das Gesicht und stöhnte leise. Oksa ließ ihn nicht aus den Augen, und neben ihr beobachtete auch Tugdual, nicht minder fasziniert, das Geschehen. Pavel tauchte ins Wasser ein, und wieder passierte es: Eine dichte weiße Dampfwolke stieg zischend von seinem Rücken auf. Pavel brüllte vor Schmerz und verdrehte die Augen.
»Papa!«, schrie Oksa und stürzte auf ihn zu.
Oksas Vater sah aus, als ob er gleich ohnmächtig würde.
»Stütz dich auf mich, ich helfe dir aus dem Wasser«, befahl Oksa.
»Nein, es ist alles in Ordnung«, versicherte ihr Pavel mit stockender Stimme. »Das Wasser kühlt mich ganz wunderbar. Es löscht dieses ganze Feuer in mir. Was für eine Erleichterung … Wenn du nur wüsstest …«
»Ganz sicher?«, fragte Oksa skeptisch.
»Ich dachte, mein Rücken fängt Feuer«, fuhr Pavel fort. Er schien sich mit jedem Augenblick mehr zu erholen. »Es fühlte sich an, als ob ich gekocht würde.«
»Das klingt schrecklich.«
»Ich glaube, ich muss einfach lernen, meinen Tintendrachen zu beherrschen, wenn ich nicht gegrillt werden will«, sagte Pavel mit einem Anflug des schwarzen Humors, den Oksa an ihm kannte. »Es sei denn, du hast Lust auf gerösteten Vater mit Barbecuesoße?«
»Papa!«, rief Oksa erbost und gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Über so was reißt man doch keine Witze!«
»Lieber drüber lachen, Oksa«, murmelte er bitter. »Lieber drüber lachen.«
Lieber lachen als leiden? Lieber lachen als daran zugrunde gehen? Diese Gedanken durchzuckten Oksa, als sie ihren Vater ansah. Eine Weile verharrten sie so, und sahen sich in die Augen. Dann zog Pavel seine Tochter an der Hand ans Ufer, und sie ließen sich unter den Bäumen nieder.
»Es scheint dir ja gut geschmeckt zu haben vorhin«, sagte Pavel und machte damit klar, dass das Thema Tintendrache für ihn beendet war. »Gibst du mir auch eine von diesen leckeren Aprikosen? Ich glaube, wir müssen dringend neue Kräfte tanken.«
Oksa musste dazu nicht einmal aufstehen. Der Baum, unter den sie sich gelegt hatten, beugte sich samt seinen schönsten Früchten zu ihr herunter, sodass sie nur die Hand auszustrecken und die Früchte zu pflücken brauchte. Alle ruhten sich inzwischen am Ufer des Teichs aus, genossen die Nachwirkungen des erfrischenden Bades und erholten sich in der idyllischen Atmosphäre.
»Sieh dir mal Remineszens da drüben an!«, sagte Oksa, der der Aprikosensaft aus den Mundwinkeln lief. »Leomido lässt sie nicht mehr aus den Augen.«
Ein Stück weit von ihnen entfernt lag Remineszens in einer zwischen zwei Bäumen gespannten Hängematte. Leomido hatte sie aus Lianen geflochten. Über ihr schwirrte eine große, grün schillernde Libelle und fächelte ihr Luft zu. Die Filigrinnen schienen gute Arbeit geleistet zu haben: Die Füße der alten Dame sahen wieder rosig und glatt aus – keine Spur mehr von Abschürfungen. Doch Remineszens wirkte trotzdem sehr mitgenommen. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und war eingeschlummert. Die bläulichen Ringe unter ihren Augen verrieten, wie erschöpft sie war. Neben ihr lehnte Leomido mit ernstem Gesicht an einem Baumstamm. Er aß eine große Mango, doch sein Blick ruhte die ganze Zeit auf Remineszens.
»Das muss ganz schön hart für ihn sein«, überlegte Oksa laut. »Nach all den Jahren die Frau wiederzufinden, die er geliebt hat.«
»Vor allem, nachdem er dachte, sie wäre tot«, sagte Pavel.
»Glaubst du, Abakum war auch in Remineszens verliebt?«, fragte Oksa auf einmal, während sie den Feenmann betrachtete, der ein wenig abseits saß und Remineszens ebenfalls beobachtete.
Pavel räusperte sich.
»Ganz bestimmt«, sagte er leise. »Aber du darfst nicht vergessen, dass Abakum ein Mann in der Pflicht ist – und vor allem ein Mann im Schatten. Seit seiner Geburt ist er der Familie der Huldvollen treu ergeben: zuerst Malorane, dann ihren Kindern Leomido und Dragomira. Und jetzt uns, ihren Nachkommen. Und obwohl er mächtiger ist als wir alle, hat er sich immer im Hintergrund gehalten.«
»So was nennt man Hingabe«, bemerkte Oksa.
»So ist Abakum: Seine Loyalität geht für ihn über alles.«
»Sogar über die Liebe«, sinnierte Tugdual.
Oksa fuhr herum. Der Junge hatte sich der Länge nach auf den untersten Ast des Aprikosenbaums gelegt.
»Darin liegt wahre Stärke«, fuhr er fort. »Das zu beherrschen, was uns zu beherrschen droht.«
»Was soll das heißen?«, fragte Oksa verständnislos, während ihr Vater bloß
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