Oksa Pollock. Die Entschwundenen
normal. Das würde doch jedem so gehen.«
»Entschuldige, Papa«, fuhr Gus, immer noch verwirrt, fort. »Ich wusste nicht … Ich wollte dich nicht …« Pierre beugte sich zu ihm und drückte ihn mit feuchten Augen an sich.
»Schon gut, mein Junge, schon gut«, murmelte er mit rauer Stimme.
»Unsere Wurzeln gehören zum Wichtigsten in unserer Persönlichkeit«, sagte Abakum sehr behutsam. »Ohne sie sind wir nichts. Wenn wir unsere Herkunft nur teilweise kennen, fühlen wir uns unvollständig. Es wird uns immer etwas Essenzielles fehlen.«
Gus’ Vater wandte den Kopf ab und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
»Es ist ganz normal, dass Gus von dieser Chimäre angezogen wurde«, fuhr der Feenmann fort. »Diese Sehnsucht wird er sein ganzes Leben lang in sich tragen, ohne euch deswegen weniger zu lieben, dich und Jeanne. Sieh dir nur mal mich an, Pierre! Ich bin über achtzig Jahre alt, wurde von wunderbaren Menschen großgezogen, mit denen mich eine tiefe, unauslöschliche Liebe verbindet. Und doch, wenn ich einen Wunsch frei hätte – nur einen einzigen –, dann wäre es, die zu sehen, die mich in die Welt gesetzt haben. Gegen dieses Bedürfnis kann niemand etwas ausrichten. Und es liegt auch kein Verrat darin. Wir alle wissen das. Du darfst das, was zwischen euch besteht, nicht deswegen schlechtmachen.«
Pierre drückte Gus noch fester an sich. Dann flüsterte er ihm etwas ins Ohr. Der Junge blickte zu ihm auf, und ein winziges Lächeln voller Zuneigung huschte über sein Gesicht.
Das Kleine Paradies
O
ksa ließ sich auf dem Felsen neben dem Teich nieder. Sie war so bewegt, dass sie den Kopf abwenden musste. Eine tonnenschwere Last lag ihr auf dem Herzen. Das runde Gesicht der Plempline tauchte immer wieder vor ihren Augen auf, und sofort verschleierten Tränen ihren Blick. Sie fragte sich, welches Trugbild wohl dem kleinen Geschöpf erschienen war, als die Sirenen von seinem Geist Besitz ergriffen hatten. Die Wohnräume der Gläsernen Säule, wo es zusammen mit Malorane gelebt hatte? Die herrlichen Wälder von Grünmantel? Arme Plempline! Oksa schluckte mühsam. Dann atmete sie tief durch und zwang sich, ihre Umgebung zu betrachten. Sie mussten jetzt unbedingt nach vorn schauen, um sich nicht von dieser Traurigkeit verschlingen zu lassen. Und der Ort, an dem sie sich befanden, bot ihnen alles, was sie brauchten, um wieder zu Kräften zu kommen. Mit seiner tropischen Üppigkeit und Schönheit mutete dieses kleine Paradies an wie die Traumvision eines genialen Schöpfers.
»Es ist phantastisch hier!«, rief Oksa in der Hoffnung, dass ihre Begeisterung ansteckend wirken würde. »Habt ihr mal in das Wasser da geschaut? Wie kann es bloß gleichzeitig so blau und so durchsichtig sein? Das ist echt … wie verzaubert!«
Rund um den Teich standen Bäume, die sich unter der Last riesiger, köstlich aussehender Früchte bogen. Als könnte die Natur ihre Gedanken lesen, neigte sich auf einmal ein besonders dicht behangener Ast zu Oksa herab. Plötzlich merkte sie, wie hungrig sie war. Sie streckte die Hand aus, pflückte die am saftigsten aussehende Frucht, eine Art übergroßer Aprikose, und biss hinein. Ein köstlicher Nektar ergoss sich in ihren Mund und gab ihr sofort neue Energie. Gierig verschlang sie die Frucht und betrachtete dann erneut das dichte Grün. Im leuchtenden Laub der Bäume saßen kleine goldene Vögelchen und flogen zwitschernd hin und her: Ihre winzigen Flügel schillerten in den Strahlen der lilafarbenen Sonne.
»Ich glaub’s nicht!«, rief Oksa verblüfft. »Das sind ja Pizzikins.«
Sie streckte die flache Hand vor sich aus, und einer von ihnen, nur ein paar Millimeter groß, setzte sich darauf.
»Hallo, Pizzikin!«, sagte sie und streichelte ihn ganz vorsichtig.
»Meine ergebensten Grüße an die Junge Huldvolle!«, piepste der winzige Vogel und senkte dabei sein mikroskopisch kleines Köpfchen.
Oksa lachte entzückt auf. Sie schaute ihren Vater an und dann die anderen, Gus, Tugdual …
»Du bist vielleicht süß, Pizzikin!«, sagte sie froh. »Weißt du, dass meine Großmutter zwei Artgenossen von dir zu Hause hat? Sie sitzen auf winzigen Schaukeln, die sie als Ohrringe trägt.«
»Es muss eine unermessliche Ehre für sie sein, die Ohren der Alten Huldvollen zu schmücken! Was für ein Glück sie haben!«, erwiderte der kleine Vogel. »Erweisen sie sich ihres glücklichen Schicksals auch würdig?«
»Äh … nicht immer!«, gab Oksa lächelnd
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