Oksa Pollock. Die Entschwundenen
ohne Gnade die ereilt, die es ausgewählt hat.«
»Aber wir hätten doch nicht zugelassen, dass die Plempline eingemäldet wird!«, rief die alte Dame mit Tränen in den Augen.
»Meine Plempline hat vom Schicksal die Bestimmung erhalten, die Rettung eines der Eingemäldeten zu vollbringen. Ihr Gehorsam war vollkommen, denn eine Wahl hatte keine Existenz.«
»Man kann seinem Schicksal nicht entgehen«, murmelte Zoé bewegt.
»Die Freundin der Jungen Huldvollen trägt die Richtigkeit in ihrem Herzen«, pflichtete der Plemplem ihr leise bei.
Sein Kopf sank auf Dragomiras Schulter. Die alte Dame schwankte unter dem Gewicht des kleinen Haushofmeisters, und Naftali eilte herbei, um zusammen mit Zoé die Baba Pollock zu stützen und zurück zum Sofa zu führen, auf das sie den Plemplem legten.
»Ich hoffe, er verkraftet es«, murmelte Zoé.
Der Plemplem richtete die Augen auf sie.
»Die Freundin der Jungen Huldvollen trägt die Hoffnung im Mund, und ihr Wunsch wird der Befriedigung begegnen«, erwiderte er matt. »Das Herz des Plemplems wird bis an sein Lebensende zerrissen sein, doch sein Leben wird die Fortdauer erfahren.«
»Es tut mir leid, dir diese Frage stellen zu müssen, mein lieber Plemplem«, fuhr Dragomira sichtlich bewegt fort. »Aber …«
»Der Plemplem besitzt die Kenntnis der Sorge der Alten Huldvollen«, unterbrach das Geschöpf sie. »Die Rette-sich-wer-kann werden eine fast vollständige Rückkehr tätigen, das ist eine Gewissheit.«
» Fast vollständig?«, fragte Naftali alarmiert, während Dragomira vor Bestürzung kein Wort herausbrachte.
»Das Verschwinden für immer wird sich wiederholen«, antwortete der Plemplem.
Da brach es mit einem herzzerreißenden Schrei aus Dragomira heraus:
»WER? SAG MIR, WER!«
»Ein eingemäldeter Rette-sich-wer-kann wird den Verlust seines Lebens erleiden. Doch der Plemplem kennt nicht seine Identität. Der Plemplem ist nicht das Schicksal«, schloss das kleine Geschöpf und rollte sich auf dem Sofa zu einer Kugel zusammen.
Der Schock dieser Ankündigung saß tief bei den im Haus am Bigtoe Square Versammelten. Dragomira versank in ihren düsteren Gedanken. In den Gesichtern von Brune und Naftali war eine tiefe Betroffenheit zu lesen. Und Jeanne, auf der neben der Sorge um ihre Angehörigen auch noch die Arbeit im Restaurant lastete, wirkte nicht weniger verzweifelt. Zoé dagegen spürte, wie sich eine seltsame Leere in ihrem Geist einnistete. Es war dasselbe Gefühl wie damals, als sie zuerst ihre Eltern, dann ihre Großmutter Remineszens und schließlich auch noch ihren Großonkel Orthon verloren hatte. Die Plötzlichkeit, mit der sie alle aus ihrem Leben verschwunden waren, war brutal gewesen, und mit ihrem Verschwinden hatten sie einen Teil von ihr mitgenommen. Dasselbe spürte sie nun wieder: Die Leere setzte sich an der Stelle fest, wo der Schmerz sich zu regen drohte, und nahm den Platz dieses verlorenen Teils ein. Das unermessliche Leid, das Zoé widerfahren war, hatte dazu geführt, dass sie sich diesen Verteidigungsmechanismus zugelegt hatte – überleben mithilfe der Leere. Etwas abseits sitzend, betrachtete sie Jeanne, Naftali, Brune und Dragomira. Sie war sich der tiefen Sorge, die an ihnen nagte, sehr wohl bewusst. Die Knuts dachten sicherlich an ihren Enkel Tugdual – und Jeanne an ihren Mann und ihren Sohn. Dragomira hatte ihren Sohn, ihre Enkelin, ihren Bruder und ihren langjährigen Beschützer in dem vermaledeiten Gemälde. Und sie selbst? An wen dachte sie als Erstes? An ihre Großmutter? An Leomido, ihren Großvater, den sie gerade erst kennengelernt hatte? An Gus? Sie musste sich zwingen nachzudenken: Zu groß war die Angst, an einen Schmerz zu stoßen, der womöglich unerträglich wäre. Oder gar tödlich. Sie strengte sich an, bis ihre Erinnerung wieder in Gang kam und das Gesicht ihrer Großmutter vor ihr auftauchte.
Die Last der Erinnerungen
Z
oé konnte sich noch gut an das letzte Mal erinnern, als sie ihre Großmutter gesehen hatte. Es war an einem Donnerstag gewesen, bei herrlichem Wetter, nur ein paar fedrige Wolken waren über den Himmel gezogen. Remineszens hatte sie zur Schule begleitet. Das machte sie jeden Tag, und sie holte sie auch wieder ab. Immer. Sie hatten sich voneinander verabschiedet und sich einen schönen Tag gewünscht. Doch an jenem Spätnachmittag hatte nicht ihre Großmutter beim Tor gestanden, sondern Orthon, ihr Großonkel. In seinen schwarzen Augen hatte ein merkwürdiger Glanz gelegen, als er
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