Oksa Pollock. Die Entschwundenen
ihr erzählt hatte, dass Remineszens ertrunken sei. Diese Nachricht raubte Zoé, die drei Monate zuvor schon ihre Eltern durch einen Flugzeugabsturz verloren hatte, das letzte bisschen Glück.
Nach dem Unglück nahm Orthon sie bei sich auf. Alle in seiner Familie waren nett zu ihr. Ihre sanfte, liebevolle Großtante Barbara war oft schwermütig, weil ihre Heimat – die USA – ihr furchtbar fehlte. Zoés Großcousin Mortimer war wie ein Bruder zu ihr, beschützend und fürsorglich. Und was ihren Großonkel Orthon betraf, so war er zwar streng, achtete aber trotzdem darauf, dass es ihr an nichts fehlte, und sie hatte sich schließlich an seinen finsteren Blick, mit dem er sie unverhohlen beobachtete, gewöhnt. Die McGraws waren ihre einzigen Verwandten, und sie war ihnen dankbar und treu ergeben.
Während sie bei ihnen wohnte, wurde Zoé oft unfreiwillig Zeugin von Streitigkeiten zwischen Orthon und Barbara. Zu ihrer großen Erleichterung ging es dabei aber um etwas, das nichts mit ihr zu tun hatte: Edefia. Immer hieß es, Orthon sei zu weit gegangen. Damals hatte sie sich vorgestellt, Edefia sei eine Frau, mit der Orthon eine Affäre hatte! Jetzt, da sie in die Geschichte der Pollocks und der Rette-sich-wer-kann, zu denen sie selbst gehörte, eingeweiht war, verstand sie den Grund für Barbaras und Orthons Meinungsverschiedenheiten. Und dann war sie eines Abends nach Hause gekommen und hatte Mortimer und Barbara in Tränen aufgelöst im Wohnzimmer angetroffen. Barbara hatte immerzu geweint, sodass Zoé nicht alles verstehen konnte, was sie sagte. Doch sie hatte sofort begriffen, dass etwas Schreckliches passiert war.
»Geh in dein Zimmer, Zoé, und mach dir keine Sorgen«, hatte Mortimer mit erstickter Stimme zu ihr gesagt. »Ich komme später zu dir.«
Es war das letzte Mal, dass sie ihren Cousin gesehen hatte. Sie hatte den ganzen Abend auf ihn gewartet und war schließlich völlig verängstigt eingeschlafen. Am nächsten Morgen war das Haus verlassen. Keine Menschenseele war mehr da. Zoé hatte stundenlang gewartet, dass jemand zurückkam, war von einem Zimmer zum anderen gewandert, hatte besorgte Nachrichten auf Orthons und Mortimers Mailbox hinterlassen. Aus Stunden waren Tage geworden, ihre verzweifelte Hoffnung war allmählich einer finsteren Gewissheit gewichen: Sie war allein auf der Welt, einsam und verlassen, es gab niemanden, an den sie sich wenden konnte. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schock.
Zoé wurde fast wahnsinnig, so allein in dem Haus. An einem eisigen Morgen, zwei Wochen nach dem Verschwinden der McGraws, fasste sie endlich einen Entschluss. In den Augen der Welt existierte sie nicht mehr. Die Speisekammer und der Kühlschrank waren leer, die Möbel staubten jeden Tag ein bisschen mehr ein, und in den Ecken tauchten die ersten Spinnweben auf. Es war, als würde das Haus sich in einen Sarg verwandeln und sie lebendig begraben. Diese Vorstellung wirkte wie ein Stromschlag auf sie. Sie packte die Dinge, die ihr am wichtigsten waren, in eine kleine Tasche: das Album mit den Fotos ihrer ersten dreizehn Lebensjahre, die Geburtstagskarten, die ihre Eltern ihr bis zu ihrem Tod jedes Jahr geschrieben hatten, das Lieblingstuch ihrer Mutter, in dem immer noch ihr Parfum hing, den schweren Füller ihres Vaters und die seltsame Flöte ihrer Großmutter. Sie schulterte die Tasche und machte sich auf den Weg zu den Pollocks, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Als Dragomira die Tür öffnete, blieb ihr beim Anblick der abgemagerten, schmutzigen Zoé, die sie mit Tränen in den Augen und Verzweiflung im Blick ansah, der Mund offen stehen.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich zu Ihnen komme, Madame Pollock. Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll.«
Und bei diesen Worten brach sie auf der Schwelle zusammen. Dragomira, die körperlichen Anstrengungen seit dem Kampf gegen Orthon kaum gewachsen war, rief die Plemplems zu Hilfe. Zoé war zu mitgenommen, um beim Anblick der seltsamen Geschöpfe zu erschrecken, und ließ sie gewähren. Sie trugen das Mädchen in die Wohnung ihrer Herrin und legten es auf ein Sofa. Dort schlief Zoé auf der Stelle ein.
»Dem Irrtum wird die Wiedergutmachung widerfahren!«, verkündete der Plemplem mysteriöser denn je.
»Bitte, lieber Plemplem, es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Rätsel!«, wies Dragomira ihn zurecht.
»Hütet Euch vor einem Urteil voller Fehler und Groll, Alte Huldvolle!«, fuhr das kleine Geschöpf unbeirrt fort. »Große Bedeutung muss dem
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