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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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kam ihrem Gesicht für einen kurzen Moment so nahe, dass sie seinen erstaunlich kühlen Atem spürte. Es durchzuckte sie vom Kopf bis zu den Füßen. Für kurze Zeit hielt sie noch Tugduals elektrisierendem Blick stand, dann wurde sie von ihren widersprüchlichen Empfindungen fast zerrissen: Zum einen hatte sie das schier unbezwingbare Bedürfnis, ihn zu beißen, und gleichzeitig hatte sie allergrößte Sehnsucht danach, dass er ihr wieder näher kam. Plötzlich musste sie an Gus denken, und sie wurde in die grausame Realität zurückkatapultiert.
    »Warum hast du ihm das angetan?«, fragte sie noch einmal. »Es ist grausam! Und ungerecht!«
    Ihre Wut schwoll noch weiter an und drohte sie zu ersticken. Tugdual stieß einen tiefen Seufzer aus und richtete sich auf.
    »Es war nur eine winzige Verletzung seines Egos, er wird es überleben, Kleine Huldvolle!«, sagte er mit einem provozierenden Lächeln. »Und sieh mal, es hat sich doch gelohnt, oder?«
    Ein dicker Tropfen landete auf Oksas Stirn. Mit offenem Mund schaute sie zum bewölkten Himmel auf. Wenige Sekunden später prasselte ein sagenhafter Guss auf die kleine Gruppe nieder. Oksa stützte sich auf die Ellbogen und fing unsicher zu lachen an. Alle um sie her lachten mit und streckten gierig das Gesicht dem Wasser entgegen, das vom Himmel fiel. Oksa suchte Gus mit dem Blick: Er kniete neben seinem Vater und beide löschten mit nach oben gewandtem Gesicht ihren Durst. Gus’ schwarze Haare lagen wie ein ebenholzfarbener Fächer auf seinem schmalen Rücken, der sich unter dem durchnässten T-Shirt abzeichnete. Er sah so zerbrechlich aus, dachte Oksa. Sie ließ sich wieder zu Boden sinken und streckte sich in voller Länge auf der schlammig gewordenen Erde aus, neben Tugdual, der sitzend die Arme auf die Knie stützte. Sie schloss die Augen und ließ das Wasser auf sich herabregnen und ihren erschöpften Körper stärken. Ihre Tränen vermischten sich mit den Regentropfen. Es war verdammt knapp gewesen! Aber welchen Preis mussten sie für ihre Rettung zahlen? Sie war zu müde und zu glücklich, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Sie spürte eine Hand, die nach ihrer griff. Auch ohne die Augen zu öffnen, hätte sie gewusst, dass es Tugdual war. Mit einem Lächeln auf den Lippen legte er sich neben sie in den Schlamm, das Gesicht zum Himmel gewandt, aus dem es wie aus Kübeln schüttete. Zu ihrer eigenen Überraschung tat Oksa nichts, um ihm ihre Hand zu entziehen. Und obwohl sie bei Gus sein und sich mit ihm über den rettenden Regenguss freuen sollte, schloss sie die Augen wieder und blieb, wo sie war, bei diesem düsteren Jungen, der ihre Hand sanft und zugleich fest umschlossen hielt.

Die Reptilienattacke
    D
as Riesenreptil öffnete ein Auge. Regen strömte in den Felsspalt, in dem es nun schon seit Urzeiten lag, er führte eine Unmenge kleiner Steine und Erde mit sich. Regen? So lange schon hatte das Reptil keinen mehr gesehen … Seit die Schauerlichen das Herz-Erforsch ihrem unseligen Willen unterworfen hatten. Aufgescheucht stemmte es sich auf seine kurzen Beine und reckte den Kopf zur Öffnung des Felsspalts empor. Stimmen drangen zu ihm herunter, menschliche Stimmen! Dann bestätigte sich, was es nicht zu hoffen gewagt hatte: Düfte bahnten sich ihren Weg zu ihm. Kein Zweifel, dort oben waren Menschen. Mit etwas Glück waren sie jung und ihr Fleisch zart. Dem Reptil lief das Wasser im Mund zusammen, es leckte sich mit der langen, gespaltenen Zunge übers Maul. Alle Sinne in Alarmbereitschaft, setzte es seine Krallen in die steile Felswand und machte sich an den Aufstieg, angelockt von dem herrlichen Duft da oben.
    Oksa, die im Schlamm lag und sich dem Regen hingab, kam allmählich wieder zur Ruhe. Tugdual hielt immer noch ihre Hand. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie Gus keine gute Freundin gewesen. Obwohl sie energisch Partei für ihn ergriffen hatte – für den, der immer schon ihr Freund gewesen war –, hatte sie sich doch eindeutig für Tugdual entschieden. Tat es ihr leid? Sie fühlte sich so gut mit ihm an ihrer Seite, in dem Regen, der auf sie niederprasselte und ihren Durst löschte. Aber was war der Auslöser für ihr Glück? Die Tatsache, dass sie ihre Gefährten gerettet hatte? Oder Tugduals Nähe? Sie runzelte die Stirn, weil ihr die Antwort, die ihr spontan in den Sinn kam, gar nicht gefiel. Also beschloss sie einfach, vorerst nicht darüber nachzudenken und sich ganz dem schönen Moment zu überlassen.
    »Bleib so liegen, Oksa!

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