Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Rühr dich nicht von der Stelle!«
Oksa schlug die Augen auf.
»Bleib liegen!«, wiederholte Gus dringlich. »Sag keinen Ton!«
Sie starrte zum dunklen Himmel hoch. Noch immer regnete es in Strömen.
»Was ist?«, flüsterte sie.
Die einzige Antwort, die sie hörte, war ein lauter Schrei, fast wie das Brüllen eines Tigers, gefolgt von Abakums Stimme:
»Pavel! NEIN!«
Oksa war mit einem Satz auf den Beinen. Getragen von dem Tintendrachen, der seine riesigen Schwingen entfaltet hatte, hing Pavel in der Luft. Er kämpfte gegen ein fünf oder sechs Meter langes Ungeheuer, das Ähnlichkeit mit einem riesigen Chamäleon hatte. Seine schuppige Haut schillerte in einem abstoßenden Grün.
»Eine Leodechse!«, rief Abakum. »Schnell, wir müssen Pavel helfen!«
Immer wieder attackierte Oksas Vater die Leodechse mit Flammen, doch das Feuer, das der Tintendrache auf ihren Kamm spuckte, schreckte sie nicht: Sie schlug mit den Krallen nach Pavel, der ihr immer näher kam.
»Papa! Pass auf!«, schrie Oksa.
Ihre Warnung war vergeblich. Ein Hieb traf ihren von den Flammen geblendeten Vater am Bauch. Blut spritzte der Leodechse ins Gesicht, sie leckte es gierig mit der Zunge ab. Währenddessen wälzte sich Pavel stöhnend im Schlamm. Der Drache auf seinem Rücken verwandelte sich wieder in Tinte. Abakum führte sein Granuk-Spuck zum Mund und feuerte erst ein Arboreszenz, dann zwei Colocynthisse auf das Biest ab. Doch die Granuks richteten nicht mehr aus als die Regentropfen, es schien, als sei die Leodechse immun gegen Granukologie. Sie verzog das Maul zu einem Grinsen – Oksa hätte es schwören können! – und fixierte die Junge Huldvolle mit ihren gelben Augen. Dann stürzte sie sich erstaunlich flink auf sie. Oksa fiel rücklings zu Boden, und das Untier warf sich auf sie – es schien jedoch darauf zu achten, dass es sie nicht zerdrückte. Oksa sah die schmutzverkrusteten Zähne der Leodechse und konnte ihren stinkenden Atem riechen. Sie hörte die Schreie der Rette-sich-wer-kann, und dann war Gus neben ihr und versetzte dem Monster mit seinen durchlöcherten Turnschuhen kräftige Fußtritte in die Flanke. Irritiert hob das Biest den Kopf und verpasste dem Störenfried einen Hieb. Oksa sah Gus ein paar Meter durch die Luft segeln und zu Boden fallen. Dann richtete die Leodechse ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen, das sich in wenigen Augenblicken in eine Mahlzeit für sie verwandeln würde.
»Lass mich in Ruhe, du Drecksbiest!«, schrie Oksa und versuchte verzweifelt, sich zu befreien.
Wieder spürte sie den stinkenden Atem der Echse auf ihrem Gesicht. Oksa verpasste ihr einen sagenhaften Knock-Bong, der das grüne Ungeheuer am Maul traf. Erschrocken warf es den Kopf zurück, und Oksa konnte einen Blick auf Abakum erhaschen.
»Halt durch!«, schrie er. »Richte Lichterlohs auf ihren Bauch, das ist ihre Schwachstelle!«
Trotz ihrer Furcht konzentrierte sich Oksa auf das Feuer und spürte, wie es in ihr entstand. Sie richtete die Handflächen auf den Brustkorb des Monsters und sah, wie Flammen über seine dicke Haut züngelten. Mehr passierte aber auch nicht.
»Weiter so!«, schrie Pavel, der die Leodechse ohne Unterlass attackierte, um sie von Oksa abzulenken. »Das ist der richtige Weg!«
Voller Hass machte sie weiter. Bald intensivierten sich die Flammen und strahlten eine unerträgliche Hitze aus. Oksa hörte, wie ihre Gefährten sie anfeuerten, während der dicke Panzer des Ungeheuers zu schmelzen anfing, als würde sie ihn mit einem Schweißbrenner bearbeiten. Kurz bevor das Biest knurrend zusammenbrach, wälzte sie sich reflexartig zur Seite. Die Leodechse verbrannte vor ihren Augen.
Oksa blieb eine Weile still. Dann fragte sie erschöpft: »Was war denn das für ein Ungeheuer?«
»Eine Leodechse«, antwortete Abakum, den Blick noch immer auf den Haufen glühender Asche gerichtet, in den sich das Untier verwandelt hatte. »Diese Reptilien sind vor Urzeiten aus einer Kreuzung von Löwen und Eidechsen hervorgegangen.«
Der Feenmann strich sich mit der Hand über den kurzen Bart. »Ich habe schon mal welche gesehen«, sagte er, den Blick in die Ferne gerichtet. »Auf dem Gebiet des Unzugänglichen.«
»Du meinst … in Edefia?«, fragte Oksa verwundert.
»Ich meine gar nichts, meine Kleine«, antwortete der alte Mann.
»Edefia hin oder her, wir müssen zusehen, dass wir heil hier herauskommen«, warf Pavel ungeduldig ein.
Oksa sah ihren Vater an. Er lag auf dem Boden und ließ sich von
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