Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
kampflos ziehen zu lassen«, erwiderte Orthon, während er sich aus dem offenen Fenster lehnte.
Tatsächlich hatten sich mehrere Dutzend Wachen schussbereit im Hof und auf den Dächern postiert, die Waffen auf Markus’ Zellenfenster gerichtet. Orthon zog sich hastig ins Innere zurück. Im selben Augenblick war das Trampeln schwerer Stiefel in den Gängen zu vernehmen, begleitet von den Rufen der Gefängnisinsassen, die von dem Tumult aufgeschreckt waren. Orthon schoss ein Granuk auf die Tür ab. Diese löste sich nicht etwa auf wie die Gitterstäbe, sondern verschmolz mit ihren eisernen Angeln, Riegel und Türstock zu einer Magma-artigen Masse, die nun zusammen mit der Steinmauer eine undurchdringliche Wand bildete.
»Vertraust du mir?«, fragte der Treubrüchige.
»Hundertprozentig!«, antwortete Markus.
»Dann pack dich warm ein und zieh dir das hier über.«
Er reichte ihm einen Schutzanzug, den Markus rasch über seinen Anorak zog, während von allen Seiten die Wachen anrückten. Da sich die Tür nicht mehr öffnen ließ, versuchten die Soldaten, sie mit einem schweren Gegenstand aufzubrechen. Die Aufregung hatte inzwischen das gesamte Gefängnis erfasst. Die Insassen wussten zwar nicht, was vor sich ging, doch aus Solidarität klopften sie mit allem, was sie zur Verfügung hatten, gegen die Gitterstäbe und machten so viel Getöse wie möglich.
»Bist du so weit?«
Markus nickte. Orthon bedeutete ihm, sich mit seinem Anzug an dessen Rüstung zu befestigen, und aneinandergekettet gingen die beiden auf das vom Scheinwerferlicht grell erleuchtete Fenster zu. Orthon kniff die Augen zusammen und stieß erneut den Tierlaut aus, mit dem er Markus’ Aufmerksamkeit erregt hatte. Aus seinen Fingerspitzen schossen Blitze zu den Scheinwerfern und ließen sie explodieren. Die Wachen zögerten, im Dunkeln zu schießen, sie wollten schließlich nicht ihre Kameraden treffen. Und außerdem ließen Orthon und seine Söhne ihnen keine Zeit zum Überlegen: Vom Zellenfenster und vom Dach der Kirche aus entwaffneten sie, wie teuflische Dirigenten eines riesigen Orchesters, die Soldaten, indem sie deren Gewehre einfach mit kleinen Bewegungen der Finger durch die Luft schleuderten.
Dann brach ein Sturm los, der von überall und nirgends zu kommen schien und die Männer wild durcheinanderwirbelte. Sie verloren jede Kontrolle über sich und wurden kreuz und quer herumgeschleudert. Schreie und Stöhnen erklangen aus allen Ecken des Hofs, zur großen Freude der Gefängnisinsassen, die lauthals jubelten.
Ab da war Markus’ Befreiung nur noch ein Kinderspiel. Fest miteinander verbunden, flogen er und Orthon durch die finstere Nacht davon.
Die Söhne des Treubrüchigen schlossen wenig später zu ihnen auf, und während Helikopter und Polizeifahrzeuge mit heulenden Sirenen aus allen Richtungen auf das Gefängnis zurasten, flogen die vier in die Wolken hinein und verschwanden im Nachthimmel über Moskau.
Alles eine Frage der Zeit
F ünf Tage und fünf Nächte war es her, seit sich das Tor von Edefia am Grund des Dunkel-Sees geöffnet hatte.
Ein paar Sekunden hatten genügt, um eine junge Liebe zu zerstören.
Ein paar Minuten, um zu verstehen, dass die Dinge nicht immer so waren, wie sie zu sein schienen.
Ein paar Tage dauerte es, bis das Mauerwandel-Elixier die tödliche Gefahr, in der Gus schwebte, vollkommen ausgelöscht hatte.
Ein paar Wochen, bis die Tochalis das von der Robiga nervosa in Maries Nervensystem hinterlassene Gift endgültig neutralisiert hatte.
Und genau dreiunddreißig Tage, bis die Integrationsbefähiger im Körper der Abgewiesenen ihre Wirkung entfalteten und ihnen die Möglichkeit eröffneten, das Tor nach Edefia zu durchqueren. Wer von ihnen würde sich wohl dafür entscheiden?
Oksa brauchte einige Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass sie nun siebzehn Jahre alt war: Nach dem Kalender von Da-Draußen war ihr Geburtstag mitten in das Neue Chaos in Edefia gefallen. Ihr schönstes Geburtstagsgeschenk war, dass sie wieder mit ihrer Mutter und Gus vereint war und die beiden hatte retten können. Doch dass sie siebzehn sein sollte, fühlte sich nach wie vor seltsam an.
Noch fünfundachtzig Tage mussten vergehen, bis die Junge Huldvolle erneut die Crucimaphilla würde benutzen können, den tödlichen schwarzen Globulus. Mit dem letzten hatte sie den einzigen noch lebenden Durchscheinenden ausgelöscht.
Aber wie lange würde es dauern, um zu reparieren, was zerbrochen war? Konnte man Tugdual aus dem Bann
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