Oksa Pollock. Die Entzweiten (German Edition)
Begabung –, und der Schmutzfatz schluckte sofort jedes noch so kleine Staubkörnchen, das sich in die Nähe des Betts verirrte; das alles geschah unter der Oberaufsicht des Getorix. Sobald Marie etwas brauchte, ob Taschentuch oder Kopfkissen, verteilte das Geschöpf mit den Wuschelhaaren die Aufgaben.
Die Junge Huldvolle beteiligte sich selbst auch mit großer Freude an der Pflege ihrer Mutter. Als Oksa in ihrem dreizehnten Lebensjahr ihre magischen Fähigkeiten entdeckt und sie vor ihrer ahnungslosen Mutter ungeniert angewendet hatte, hatte dies zu einer schweren Krise in der Familie und zur zeitweiligen Trennung ihrer Eltern geführt. Doch jetzt durfte Oksa ihrer Begabung freien Lauf lassen. Marie zum Lachen zu bringen, erfüllte sogar therapeutische Zwecke! Und so sah man nicht selten mit Wasser gefüllte Gläser quer durch die Küche bis zum Krankenbett im Wohnzimmer schweben. Lichterlohs waren Maries Favorit: Sie war ganz begeistert, wenn Oksa wieder einmal aus der Ferne eine Kerze anzündete, indem sie einfach eine kleine Feuerkugel aus ihrer Handfläche losschickte. Alles diente dem Vergnügen – der Haushalt, die Mahlzeiten, die Pflegemaßnahmen … Am Bigtoe Square feierte die Magie Hochzeit!
Bei Gus wurden die Abstände zwischen den schrecklichen Schmerzattacken, unter denen er nach wie vor litt, immer größer, in dem Maße, wie sein Körper das Mauerwandel-Elixier absorbierte. Doch wie bei Marie stand auch bei ihm fest, dass er gesund werden würde. Dennoch machte sich Oksa Sorgen. Oft beobachtete sie ihn verstohlen und hoffte, dass er weder ihre Unruhe bemerkte noch die Tatsache, dass sie ihm besondere Aufmerksamkeit schenkte. Das war jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt.
»Diskretion war noch nie deine Stärke, Oksa, und wird es bestimmt auch nie werden.«
»Was meinst du damit?«, fragte Oksa unschuldig.
Gus verdrehte bloß die Augen.
»Aha. Du glaubst also, dass ich nichts Besseres zu tun hätte, als dir hinterherzuspionieren und angesichts deines außerordentlichen Charmes in Ehrfurcht zu erstarren? Bilde dir bloß nichts ein, so gut siehst du nun auch wieder nicht aus!«
Doch dann musste sie unwillkürlich über ihre eigenen Worte lachen. Gus lachte halbherzig mit und lief rot an.
Mit schelmischem Blick wandte er sich an die stille Zoé: »Du bist doch eindeutig die Weiseste von uns allen, Zoé, könntest du bitte dieser durchgeknallten Jungen Huldvollen beibringen, dass wir eine Aufgabe zu erledigen haben?«
Diesmal wurde Zoé rot. Mit ihren großen braunen Augen, den Sommersprossen und dem blonden, zu einem lockeren Knoten zusammengesteckten Haar sah sie wie immer wunderhübsch aus. Sie blieb sich treu, eine zurückhaltende, aber absolut zuverlässige Verbündete. Doch diese Zurückhaltung war Oksa, die vom Wesen her das genaue Gegenteil war, nach wie vor ein Rätsel. Sie zweifelte nicht im Geringsten an ihrer Großcousine, doch Zoés wahre Gedanken und Empfindungen würden ihr immer verborgen bleiben. Vor der Liebsten-Entfremdung war Zoé in Gus verliebt gewesen, da war sich Oksa ganz sicher. Seither hatten die beiden Mädchen nicht mehr darüber gesprochen. Dennoch vermutete Oksa, dass ihre Freundin sich trotz der Liebsten-Entfremdung zumindest noch an ihre Gefühle erinnerte. Nur ihre Fähigkeit zu lieben war verschwunden. Für immer.
»Danke für das Kompliment«, antwortete Zoé. »Aber ich fürchte, ich kann da gar nichts ausrichten. Du weißt ja, wie Oksa ist!«
»Da hast du recht. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass wir es mit einer Wahnsinnigen zu tun haben.«
Oksa schnaubte empört, hob mit funkelnden Augen aus der Ferne einen Kugelschreiber vom Schreibtisch und lenkte ihn rachsüchtig in Gus’ Richtung. Wie ein winziges Schwert blieb er über ihm in der Luft stehen.
Gus blieb ganz gelassen: »Was soll das sein? Ein Einschüchterungsversuch? Oder willst du mir einen Dolch ins Herz stoßen und mich für immer zum Schweigen bringen?«
»Ein schöner Dolch«, sagte Oksa seufzend und zwinkerte ihm zu.
Dann ließ sie den Kugelschreiber sanft in seiner Hand landen. In solchen Momenten, wenn Gus auf ihre Attacken mit Humor reagierte, mochte sie ihn am liebsten.
Ihr Freund drehte ihr den Rücken zu. »Du solltest dich lieber um dein Ringelpupo kümmern anstatt um mich. Es scheint Verdauungsschwierigkeiten zu haben!«
»Mein Pupo?«
Überrascht beugte Oksa sich über das armbandähnliche Geschöpf, das sie auf den Schreibtisch gelegt hatte. Der winzige Bär
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