Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
überzeugen. »Wie für Remineszens und für Zoé sind auch für ihn die Blutsbande nicht das Wichtigste. Und nach allem, was Oksa uns erzählt hat, hat ihn der Anblick seines Vaters, wie er seinen Großvater umgebracht hat, wahrscheinlich endgültig dazu bewogen, das Lager zu wechseln.«
»Aber wer sagt uns, dass das nicht eine neue List von Orthon ist?«, warf Jeanne ein. »Vielleicht ist er der Spion!«
»Ein Infiltrant«, ergänzte Emica.
»Ein trojanisches Pferd!«, rief Olof.
Diesmal gab Oksa Tugdual recht und erzählte von ihrer Unterredung mit den Sensibyllen. Und diejenigen unter ihren Anhängern, die immer noch an der Ehrlichkeit von Mortimers Absichten zweifelten, ließen sich schließlich durch den Holzzylinder mit der Tochalis überzeugen.
»Soll das heißen, dass Mortimer sich aus eigenem Antrieb ins Unzugängliche gewagt hat, um Tochalis für dich zu suchen?«, staunte Mystia.
»Nicht für mich«, verbesserte sie Oksa. »Für meine Mutter.«
»Ist euch überhaupt klar, wie gefährlich das ist?«, fragte Sven. »Das Unzugängliche war von jeher der wildeste Landstrich von Edefia, und in letzter Zeit ist das noch extremer geworden. Die Geschöpfe dort waren immer schon gefährlich, und der Klimawandel hat ihre Aggressivität noch gesteigert. In den letzten zehn Jahren, wenn nicht gar noch länger, hat es keiner von uns gewagt, dieses Gebiet zu betreten.«
»Seid Ihr wirklich sicher, dass es Tochalis ist?«, wandte sich Emica an Oksa. »Die Kräuter könnten doch auch giftig sein.«
Oksa runzelte die Stirn und sah Tugdual an, doch der wich ihrem Blick aus. Er war so blass, dass sie schon glaubte, ihm wäre übel. Nun schloss er die Augen, klammerte sich an die Lehne des Stuhls vor ihm und wirkte wieder einmal völlig weggetreten. Oksa war nicht entgangen, dass er bei seinem Bericht über Mortimer einige Details ausgelassen hatte. Was hatte das zu bedeuten? Zweifelnd schaute sie auf das Behältnis mit den kostbaren Gräsern.
»Abakum, du kannst uns doch bestimmt sagen, was das für eine Pflanze ist!«, sagte sie und sah ihn dabei erwartungsvoll an.
Der Feenmann hatte bis jetzt geschwiegen. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck hatte er erst Oksas und dann Tugduals Bericht angehört. Orthons Tat muss ihn in seinem tiefsten Inneren erschüttert haben, dachte Oksa. Nun kam er langsam näher und nahm die Gräser in die Hand. Er musterte sie gründlich, befühlte sie, hielt sie gegen das Licht, kostete ein wenig davon und sprach schließlich sein Urteil: »Das ist Tochalis! Reineres und kräftigeres Tochalis, als wir uns je hätten erhoffen können!«
Oksa seufzte erleichtert, und auch Pavel entspannte sich sichtlich.
»Darf ich es an mich nehmen, Oksa, meine Huldvolle?«, fragte der Feenmann. »Ich möchte das Heilmittel für Marie zubereiten.«
»Kennst du denn die Rezeptur?«, rutschte es Oksa heraus.
»Ja, ich kenne sie«, entgegnete Abakum bloß bescheiden.
»Also haben wir jetzt alles, was wir brauchen!«, schloss die Neue Huldvolle.
»Bleibt uns nur noch abzuwarten, bis das Tor sich öffnet«, ergänzte ihr Vater etwas verzweifelt.
»Und bis Orthon uns angreift«, fügte Abakum mit einem seltsam traurigen Blick hinzu. »Doch bevor jeder von uns wie vereinbart seinen Posten einnimmt, schlage ich vor, dass wir ein paar Entscheidungen bezüglich unserer nahen Zukunft treffen. Angefangen mit der Ernennung desjenigen, der dich vertreten soll, solange du im Da-Draußen bist, Oksa, meine Huldvolle.«
Wenn alles gut geht
E
lsevir der Huldvollen Oksa, Blatt Nummer zwölf.
Ort: Huldvolle Gemächer, Gläserne Säule in der Goldenen-Mitte.
Datum: unbekannt. Entspricht der 56. Nacht nach der Einrichtung der Sanduhr meiner Herrschaft.
Heute habe ich ganz besonderen Besuch bekommen. Mein Phönix war bei mir. Er hat mir eine Nachricht von Dragomira überbracht. Meine Baba fehlt mir so sehr …
Es ist die Auskunft, auf die wir alle gewartet haben.
Im Moment bin ich die Einzige, die davon weiß.
Und die Einzige, die deswegen leidet. Ob ich das aushalten kann?
Seit drei Tagen und drei Nächten bin ich aus den Bergen von Steilfels zurück. Drei endlos lange Tage und Nächte. Schreckliche Tage, die für meine Nächsten schwer zu ertragen waren.
Aber wenn sie erst einmal erfahren, was ich weiß, wird es für sie noch schlimmer werden.
Ich kenne alle Einzelheiten.
Trotzdem ist es nicht einfach. Nichts ist je einfach gewesen, und nichts wird je einfach sein. »So ist das bei den Pollocks …«,
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