Oktoberfest
Meierinho in dieser Nacht ins »Klenze 66« kam, befanden sich nur noch wenige Gäste in dem Lokal. Sein Blick suchte nach bekannten Gesichtern.
In einer Ecke des Raumes, fast hätte er ihn übersehen, saß Werner Vogel und starrte auf das halbvolle Bierglas vor sich.
Stefan Meier durchquerte den Raum und winkte Vogtländer, dem Barmann, die übliche Bestellung zu. Dann setzte er sich neben Vogel. Der schien ihn nicht zu bemerken.
»Servus, Werner! Was machst du denn für ein Gesicht?«, fragte Meierinho, obwohl er sich den Grund denken konnte.
Vogel hob langsam den Blick.
»Stefan! So spät noch unterwegs? Musst du morgen nicht zur Arbeit?«
Vogtländer stellte ein Bier vor Meierinho ab. »Zum Wohle!« Stefan Meier hob sein Glas und stieß mit Vogel an. Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, seufzte er und stellte das Glas ab.
»Nein, ich habe morgen frei. Und bei dir? Was ist los?«
Werner kniff den Mund zusammen. Als er sprach, klang seine Stimme brüchig. Meierinho wurde klar, dass sein Freund mit den Tränen kämpfte.
»Die haben sie mitgenommen. Diese Schweine haben sie mitgenommen.«
»Wen mitgenommen?« Meierinho fragte sich, ob seine gespielte Unwissenheit überzeugend wirkte.
»Amelie. Sie haben Amelie mitgenommen. Ihr Chefredakteur hat angerufen und es mir erzählt. Ich bin sofort zur Polizei. Aber keiner wollte mir etwas sagen. Irgendein Gefasel von polizeitaktischen Gründen. Dann haben sie mich wieder weggeschickt.«
Unvermittelt befand sich Stefan Meier in einem Loyalitätskonflikt. Sollte er seinem Freund sagen, was er wusste? Würde er damit dessen Sorgen, dessen Angst mildern können? Dann dachte er an die Verschwiegenheitserklärung, die er hatte unterschreiben müssen.
Er sah eine Träne über Werners Wange rollen. Um nichts sagen zu müssen, nahm er einen weiteren Schluck aus seinem Bierglas.
»Bestimmt ist sie tot. Die haben sie umgebracht. Warum hat sie das nur gemacht? Warum ist sie in dieses Zelt gegangen? Und warum haben diese Dreckskerle sie mitgenommen? Warum nicht den Bundespräsidenten? Oder irgendjemand anderen? Warum?« Werner wurde von einem Schluchzen geschüttelt und starrte wieder in sein Bier, als wäre von dort eine Antwort zu erwarten.
»Das wird schon. Bestimmt ist ihr nichts passiert«, startete Meierinho einen schwachen Versuch, Werner Vogel zu trösten.
Der sah ihn nicht an, als er mit leiser Stimme sprach. »Lieb gemeint. Aber wenn Amelie etwas passiert ist, dann will ich auch nicht mehr. Das halte ich nicht aus. Wie oft passiert es einem im Leben, dass man den richtigen Menschen findet?« Er zog laut die Nase hoch. »Den meisten Menschen passiert es überhaupt nicht. Mir ist es passiert. Einmal. Aber dass es mir ein zweites Mal passiert, glaubt keiner.« Als er den Blick hob, waren seine Augen leicht gerötet.
Meierinho hielt ihm ein Taschentuch entgegen.
»Sie lebt noch. Ich weiß es.«
»Ach ja? Und woher?«
»Das darfst du mich nicht fragen. Aber ich weiß es!«
Vogel schüttelte den Kopf. Dann putzte er sich vernehmlich die Nase. »Ich wünschte, ich könnte dir glauben.«
»Du kannst mir glauben. Ich weiß sogar, wo sie ist. Und die Polizei weiß es auch. Die genaue Adresse ist bekannt. Sie werden sie retten.« Stefan Meier wusste, dass er bereits viel zu weit gegangen war, aber er mochte Werner nicht so leiden sehen. Freundschaft siegte über Dienstpflicht.
»Du weißt, wo sie ist? Erzähl doch keinen Quatsch! Woher solltest du das wissen?«
»Sagen wir mal so, ich habe der Polizei in den letzten Tagen etwas geholfen.«
»Wobei? Hast du ihre Handys repariert?«
»Das darfst du mich nicht fragen. Aber Amelie lebt.«
»Und? Wenn du es weißt, sag mir, wo sie ist.« Werner sah ihn mit einem kleinen Funken Hoffnung in den Augen an.
»Das darf ich nicht.«
»Netter Versuch, Stefan. Fast wäre ich drauf reingefallen.« Bitterkeit lag in seiner Stimme. Er schluchzte erneut und begann wieder, sein Glas zu fixieren.
»Also gut«, sagte Meierinho mit fester Stimme. »Sie ist auf Sylt. In einem kleinen Ort ganz im Süden der Insel. Der Ort heißt Hörnum.«
Die Ernsthaftigkeit, mit der Stefan Meier sprach, ließ Werner wieder die Augen heben. »Sylt? Im Ernst? Verarschst du mich?«
»Käme ich in dieser Situation bestimmt nicht drauf, Werner.«
Werner setzte sich aufrecht hin. Er schneuzte sich ein weiteres Mal. Von der Brüchigkeit seiner Stimme war nichts mehr zu hören. »Dann weiß ich, was ich zu tun habe. Ich fahre hin. Ich
Weitere Kostenlose Bücher