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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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meines Lebens, da er Mutter hartnäckig Sweta nannte, obwohl sie doch Mutter hieß, wie absolut jeder wußte. Aber wenn ich an meine ersten Jahre zurückdenke, sehe ich meine Mutter nicht. Ich sehe Tatsiana im Gitterbett neben mir, 4500 Gramm bei der Geburt, ein ordentlicher Brocken, ein quietschfideles Ding. Ich dagegen schien beklagenswert damit beschäftigt, zu atmen, Herz und Kreislauf zu regulieren, den Wärmehaushalt zu stabilisieren, Nahrung aufzunehmen und sie bei mir zu behalten. Leben war Arbeit. Mein Leben begann mit Arbeit.
    (Deshalb schickte man mich später auch zu den Leichtathleten. Leicht war ich, Athlet sollte ich werden. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätten meine Eltern andere Sportarten ähnlich wörtlich genommen. Russenkegeln. Oder Apnoetauchen.)
    Nach meiner Geburt fragte Vater Großpapa:
    »Bleibt das etwa so rot?«
    Und der Alte antwortete:
    »Na hoffentlich. Wenigstens ein Aufrechter in der Sippe!«Dann griff ich nach Großpapas Daumen und hatte ihn, trotz der Schwäche meines Leibes, auch schon ganz fest im Griff.
    Tatsiana im Gitterbett neben mir. Sie probte ihren Ausbruch, immer wenn sie gerade mal nicht schläfrig war, also fast andauernd, und ich sah ihr fasziniert beim Klettern zu. Die Röte in meinem Gesicht begann sich allmählich zu verlieren.
    Wenn Mutter einen guten Tag hatte, vertauschte sie unsere Kleider, dann erst trug ich die für mich bestimmten Farben. Mutter hatte ja Zeit. Sie blieb zuhause, Großpapa, Großmama, Vater waren bei der Arbeit. Sechzehn Jahre, und gleich zwei Kinder, auch wenn das zweite nur die Schwester des Mannes war. Und nicht einmal eine romantische Geschichte, die man hätte erzählen können, wenn die Freundinnen fragten, als sie kamen; aber sie kamen nur noch selten, seit Mutter eine ebenso billige wie freudlose Notheirat hinter sich gebracht hatte, sogar am Wodka hatte man gespart. Keine romantische Geschichte. Bei meinen Eltern fiel das Leben eher im Telegrammstil aus:
    Vater bespannt Nachbarmädel von Schlafzimmerfenster zu Schlafzimmerfenster Stop Öffne, Liebste, mir die Tür, auf Tanzschritte wird verzichtet, da viel zu besoffen Stop Nachbarmädel ist blöd genug, auf Avancen einzugehen Stop Nachbarmädel wird schwanger Stop Ergebnis bin ich Stop
    Lebe, wie du stirbst: unauffällig. Das Motto meiner Eltern. Obwohl sie jung waren, die Eltern. Die jungen Eltern. Die allzu jungen Eltern. Die doch alten Eltern. Die Eltern, die doch so alt waren, wie andere niemals sein werden. Alt geborene Eltern. Zum Altsein verdammte Eltern. In kaum neun Monaten waren sie erwachsen geworden, so schien es, eine Spezialität dieses Alters. Und dieses Landstrichs.
    Die Kinder, Tatsiana, Alezja und ich, hatten zu viele Fragen. Zu viele für die Eltern. Zu viele, um sie zu beantworten. Und zu viele, die sie nicht beantworten konnten. »Davon versteht ihr nichts.« Was so viel hieß wie: Davon verstehen wir nichts. Also: Laßt die Finger davon! Und zur Bekräftigung erhielten sie einen Schlag, diese Finger, dreißig brennende Fingerkuppen. Ich war der einzige, der weinte – ein Plärrkopf eben! –, Tatsiana zuckte nur mit den Schultern und gewöhnte sich an, die Antworten auf ihre Fragen in Büchern zu suchen. Und Alezja? Alezja verstopfte sich prompt den Mund mit Essen. Dafür gab es wenigstens nichts auf die Finger.
    Davon versteht ihr nichts. Eine solche Mitteilung (Mit-Teilung?) kam dem Todesurteil für ein Thema gleich, und so zeichnete sich schon früh ab, daß ich kein Schiffsbauingenieur, kein Physiker, und kein Landvermesser werden würde. Bei allem Neuen, das mir später in der Schule begegnete, gewöhnte ich mir eine einfache Technik an, mir keine Blöße zu geben. Wenn ich etwas, das selbstverständlich zu sein schien, nicht kannte oder nicht wußte, ließ ich es mein Gegenüber im Vorübergehen erklären, prägte es mir ein; nächstens behandelte ich es wie etwas, mit dem ich seit jeher routinierten Umgang pflegte. Ich spiele Routine. Nichts macht mir bis heute mehr Angst, als etwas das erste Mal zu tun, als Anfänger bei einer Sache zu gelten, und sei sie auch noch so unbedeutend.
    Als Großmama einmal Zweifel anmeldete, ob die Schläge auf die Finger nicht vielleicht ernste seelische Nebenwirkungen haben könnten, öffnete Vater grunzend eine Flasche Bier, leerte sie in einem Zug, und stellte sie sich auf den Kopf. Dann ging er damit, vorsichtig balancierend, in die Knie, hob die Arme in Flugstellung, stand in dieser Yoga-Figur einen Moment,

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