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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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zusammen. Die Woche, in der traditionell Schafhälften, die Rasou aus dem Fleischkombinat organisierte, geschlachtet, zerteilt und gewurstet wurden.
    Die ganze Familie sah der Zeit mit Vorfreude entgegen. Wenn auch der übliche Streit nicht ausblieb, die Fäuste flogen und die Hände an Wangen klatschten, war er doch schneller als sonst geschlichtet. Jeder hatte genug mit dem Schaf zu tun und nicht mit sich. Sogar Vater schien gelöst und Mutter weniger teilnahmslos als sonst. Doch niemand war mehr in dieses Fest vernarrt als ich. Weil es Wurst gab, die geräuchert werden mußte. Und für das Feuern war ich seit meinem achten Lebensjahr ganz allein zuständig. Großpapa hatte mich sogar zum Generalfeuermeister ernannt und mir drei Orden aus Blech gebastelt, die ich in den Septembertagen offen am Hemd tragen mußte. Der erste zeigte zwei stilisierte Flammen, gelb auf rotem Grund; der zweite einen bronzefarbenen Salamander (bei näherem Hinsehen entpuppte er sich als Mops mit schlimmem Husten); der dritte bildete irgendetwas ab, das niemand erkannte, eine behaarte Wurst, vielleicht noch einen Mops, sichtlich fiel Großpapa zum Thema Feuer nichts Entscheidendes mehr ein. Ganz gleich: Während dieser Tage war ich Generalfeuermeister, hatte Holz gesammelt, auch ein wenig Laub gerecht. Meine Tantchen und ich sahen zu, wie Großpapa mit dem Feuer zu uns trat, er sagte, er liebe den Moment, wenn die Flammen flügge würden, ob er uns das schon erzählt habe?! Dann übergab er mir die kleine Fackel.
    Rauch stieg, der Westwind verwirbelte ihn, und er zog ins Haus, bis in die späten Abendstunden. Alezja stellte sich hin und wieder in den Wind. Dann tanzte sie, wild wie die Baba Jaga. Sie liebte es, nach Asche zu riechen. Und ich liebte den Geruch von Asche an ihr, in ihrem langen blonden Haar.

Drei Streichhölzer aus Teheran
    Für die Hiesigen waren wir keine Hiesigen, wir waren die Familie vom Roten Ungarn. Aber die Hiesigen waren ja auch keine Hiesigen, selbst wenn das der einzige Name war, den sie sich selbst gaben: Die Hiesigen. Gefragt, welche Sprache sie sprächen: Die Hiesige. Was das für ein Land wäre: Das Hiesige.
    Sie waren keine Russen. Sie wußten nichts von Belarus. Und Polen war unter ihren Füßen einfach, schwupp, westwärts gezogen worden. Sie hatten es, wie einen fliegenden Teppich, nicht aufhalten können, oder nicht aufhalten wollen, und nun waren sie fremd im Eigenen, sprachen eine fremde Sprache im eigenen Land, ohne das Land auch nur ein einziges Mal verlassen zu haben.
    Wir waren das mittlere Streichholz. Das ganz links, faselte Churchill, während Väterchen Stalin seine Stiefel musterte und sich auf den Moment freute, sie endlich ausziehen zu dürfen, es war Ende November 1943, der englische Premier hatte seinen Londoner Nebel mit dem trüben Himmel Teherans vertauscht, der voller Staub war, und Churchill hustete sich krank und dumm, tagelang: das Streichholz ganz links war Deutschland, das kleine krumme daneben Polen, und das rechts außen, das der kahle alte Mann mit der Blume am Revers jetzt nach links verschob und dabei die anderen vom Tisch kullern ließ, das war Rußland. Wie Soldaten, die seitlich wegtreten. Auch die latschten anderen hin und wieder auf die Zehchen, das sei nun mal nicht zu ändern. Und dann beugtesich Churchill vor, hob Polen vom Boden auf, und zündete sich damit, trotz seines Staubhustens, eine Zigarre an.
    Meine Kindheit in unserem Städtchen. Es krankte in der Sonne, und die Kleinstädterhäuser und die Scheuern und die Hühner dösten krank und schief unter unserem blauen Himmel. Blau. Das stählernste Blau, das ich in meinen dreißig Jahren erinnere. Und dabei erinnere ich so manches Blau: das flandrische, das den Malern einer fernen Epoche so wohlfeil war, daß sie ihre Bilder nicht genug damit zuschütten konnten, das stille venezianische Blau des Canaletto und das russische Blau, das stupide blaue Tuch, das den ganzen Sommer über Petersburg liegt; und dann unseres, ein Blau, so stählern und so schön, daß es uns mit Zins und Zinseszins von den Russen oder dem lieben Gott noch einmal abgefordert werden wird.
    Unser Städtchen. Es verfiel bald nach dem Krieg, von dem irgendeiner behauptete, wir hätten ihn gewonnen (aber so recht glauben mochte es niemand, schließlich hatte jede Familie unzählige Beerdigungen hinter sich gebracht), verfiel in einen sowjetischen Dämmer. Aus dem Dämmer wurde Schlaf, wurde Tiefschlaf. Und auch das charakterisiert kaum den noch

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