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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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entstammte. Jeder Zoll ein Hammerschlag. Mutter fand immer seltener Kleidchen, die Alezja paßten, und so begann sie das Interesse an ihr zu verlieren. Tatsiana sollte sich von jetzt an um das Schwesterchen kümmern, aber sie und Alezja hielten es schon lange für Pech, als Geschwister zur Welt gekommen zu sein. Tatsiana hatte sich früh für Bücher zu interessieren begonnen, besonders eines über den Bau des menschlichen Körpers hatte es ihr angetan (wochenlang stand ich ihr als Vergleichsmodell zur Verfügung, bis uns Vater einmal dabei erwischte, anschließend kühlten zwanzig Fingerkuppen im kalten Wasser, und Tatsiana bat mich inständig, doch mit dem Heulen aufzuhören, mit den Griffeln könne sie mich einfach nicht streicheln). Immerhin gab sie sich Mühe, Alezja daran teilhaben zu lassen, ihr das Geheimnis der Buchstaben beizubringen, aber die winkte nur leise gähnend ab und durchsuchte das Haus nach den Süßigkeiten, die Großmama jeden Sonntag an neuen Orten versteckte. Jede Woche war Ostern. Und Buchstaben sättigten nicht.
    Als Tatsiana eine neue Puppe bekam, die sie endlich von ihren anatomischen Vorlieben ablenken sollte, ging die ganzeFamilie durch eine grauenvolle Zeit. In Phase Eins weinte Alezja ohne Unterlaß, in Phase Zwei schlich sie wie eine Untote durch die Zimmer. Bis Vater und Onkel Janka loszogen, endlich Gleichheit und Gerechtigkeit unter den Schwestern zu stiften – was sie Zeit und Mühe kostete, schließlich war unsere Wirtschaft nicht darauf ausgerichtet, beliebig viele Puppen derselben Sorte zur freien Verfügung zu halten, und ohne Onkel Jankas Geschäftsverbindungen wären sie fraglos gescheitert.
    Alezja, beim Auspacken noch voller Vorfreude, ließ ihre Mundwinkel hängen, als sie ihr neues Spielzeug erblickte.
    »Och, das ist ja genau die gleiche.«
    Sie seufzte herzzerreißend.
    »Ich dachte, ich bekomme eine schönere als Tanja.«
    Zurück also zu Phase Eins. Vater war entnervt. Großmama war entnervt. Tatsiana war entnervt. Ich ging auf die Wiese hinter dem Schlittenhügel, wie so oft in diesen Jahren, grub zwei kleine Löcher ins Erdreich, und übte Tiefstart. Ein guter Leichtathlet hat nie Trainingspause.
    Der Schlittenhügel. Er war eine wenig spektakuläre Erhebung, gerade hoch genug, um im Winter eine zehnsekündige Fahrt hinter sich zu bringen, der Transport des Schlittens von der Wiese auf die Hügelkuppe dauerte siebenmal so lang. Was den Schlittenhügel aber zu einem echten Erlebnis machte, war der Weg nach Hause. Um wieder ins Städtchen zu gelangen, mußten alle Kinder am Friedhof vorbei. Es dämmerte schon am Nachmittag, war es Viertel nach fünf, sah man kaum mehr die Hand vor Augen. Wir orientierten uns an den hundert Lichtern auf den Gräbern, blakende, flackernde Lämpchen, »die Seelen der Toten«, sagte die Großmama. Jeder von uns hatte Schatten von menschlicher Gestalt und unheimlicherLänge gesehen, die keines dieser Lichter hätte werfen können. Über dem ältesten Teil des Friedhofs beobachteten wir wieder und wieder ein rotes Glimmern und Glosen. Manche erzählten von Begegnungen mit Unbekannten, die sie mit schwerem Zungenschlag nach dem Weg aus dem Krieg oder dem ins Leben gefragt hätten. Großmama beschwor eine Erscheinung mit klaffendem schwarzen Loch im Schädel. Sie hatte sich ihr, kaum war sie achtzehn Jahre alt geworden, unter schrecklich lautem Röcheln als ihr Vater vorgestellt. Großmama hatte ihren Korb fallen lassen, den Rock gerafft, sie war nach Hause gehetzt, hatte die Türen versperrt, und sich, mit dem Bild der Muttergottes und einem Nudelholz bewaffnet, in der hell erleuchteten Speisekammer eingeschlossen. Uns Kindern standen die Haare zu Berge.
    »Dummes Zeug«, schrie der Großpapa, »wenn der Rote Sascha überhaupt jemandem erschienen wäre, dann ja wohl mir. Um einen zu saufen. Außerdem hat ihn keine einzige Kugel am Kopf erwischt.«
    »Sondern?«
    »Zwei am Bauch. Eine tiefer. Glatter Eierdurchschuß links.« Die Großmama zeterte, schlug die Türen, versalzte das Essen. Das konnte tagelang so gehen. Bis Großpapa aufhörte, ihr hämisch zuzuzwinkern.
    Was unsere Familie in diesen Jahren rettete, war das Schlachtfest. Großpapa und Onkel Janka hatten es als eine Erinnerung an den Auszug aus Ungarn gestiftet. Und auch wenn die beiden ansonsten nicht oft miteinander verkehrten, weil Großpapa meinte, Onkel Janka habe aus Rache seinen einzigen Sohn zum Kapitalistenschwein gemacht, brachte sie die letzte Septemberwoche wieder

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