Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
bevor er sich verbeugte, die Flasche kurz vor demBoden auffing, sich wieder aufrichtete und die Küche verließ. Vater schien sagen zu wollen: Kinder haben keine Seele zu haben. Schlimm genug, daß es sowas bei Erwachsenen gibt.
Die Eltern, die allzu jungen. So kam ich also zum Großpapa. Der gab zwar auch keine Antworten, aber er liebte es zu erzählen. Und ich gewöhnte mich ans Zuhören.
Großpapa konnte als einziger Mensch durch leisen Druck auf die Nasenwurzel aus beiden Nüstern gleichzeitig ausrotzen. Unnötig zu erwähnen, daß ich ihm eine ähnliche Geschicklichkeit schuldig bleiben mußte. Als sich Großmama, Vater und Mutter unisono darüber beschwerten, daß er für den Kleinen ein schlechtes Vorbild war, gewöhnte er sich, sehr zu meinem Bedauern, an, Taschentücher zu benutzen. Im Winter hängte er sie, vollgerotzt wie sie waren, immer über den Ofen zum Trocknen. Ein vollbeflaggtes Schiff, hart am Wind. Ich liebte es, in dessen Nähe, luvwärts, ein Lager zu bereiten, ein kleines Zelt aus alten Decken, im Winkel, wo ich nicht störte, und doch unbemerkt lange wach bleiben und die Erwachsenen belauschen konnte. Bis mir ausgerechnet Mutter diese kleine Eigenart verbot, schließlich hätte ich ohnehin schon, als einziger in dieser Familie, ein fürstliches Einzelzimmer. Ausgerechnet Mutter, die ansonsten nie eine Meinung hatte, die nie eine Entscheidung traf, verbot mir mein Zelt, obwohl sie doch noch gut hätte wissen müssen, daß es für ein Kind nichts Schöneres gibt als sein eigenes kleines Heim im Heim; Mutter, selbst immer wieder Kind. Kaum war Alezja zur Welt gekommen, behandelte sie sie wie ihre Lieblingspuppe, zwängte sie in Prinzessinnenkleidchen, flocht ihr goldene Schleifen in die ersten blonden Locken, trug sie stundenlang mit sich herum und nahm sie überallhin mit, während Tatsiana und ich zuhause blieben, ausrangiertem Spielzeug gleich, wie auf einen Haufen, wie aufeinander geworfen.
Im Alter von sieben Jahren sollte mir Großpapa auf Drängen von Großmama endlich einmal etwas Nützliches beibringen und mit dem Gerede von der Revolution aufhören. Der Alte entschied sich fürs Schachspielen. Als dies so gut klappte, daß ich ihn schon wenige Wochen später nach seiner verpatzten Tschigorin-Eröffnung das erste Mal besiegte und dafür prompt am Nachmittag ins Bett geschickt wurde, kam das Ausbessern an die Reihe. Großpapa war bereits in Pension, in unserem Haushalt gab es viel zu wenig auszubessern, und das wenige, das ihm Rasou aus dem Fleischkombinat brachte, reichte kaum für ein paar Stunden Beschäftigung im Monat. Also verfiel Großpapa darauf, elektrische Geräte zunächst einmal unter Generalverdacht zu stellen, und sie, wenn sie schon nicht ausdrücklich kaputt waren, doch für so untauglich zu erklären, daß sie ausgebessert, ja verbessert werden mußten. Kein Schalter und keine Sicherung, die seinen kritischen Augen standhielten, selbst nach dem zwölften Aprikosenschnaps, der den Lauf der Uhr erst rund machte, keine Wicklung eines Elektromotors, die eine Fehlerprüfung überstanden hätte. Für mich war das auf Dauer nichts. Geduld konnte mir auch Großpapa nicht beibringen, ich brauchte rasche Ergebnisse, schnelle Erfolge. Wollten die Geräte nicht, wie ich wollte, drohte ich ihnen. Wollten sie noch immer nicht, begann ich, auf sie einzuschlagen. Waren sie so verblendet, mir auch dann nicht zu gehorchen, zerstörte ich sie, mit Zornestränen in den Augen. Sollten sie, sollten die anderen Geräte doch sehen, was sie davon hätten, wenn sie sich mir widersetzten. Großpapa beobachtete solche Szenen, beobachtete mich mit traurigem Blick. Er schwieg, auch dann, wenn mir das Blut über die Hand floß, wenn ich mich selbst verletzt hatte in meiner Raserei.
Nur einmal sagte er:
»Du hättest einen prima Kulaken abgegeben!«Dann schickte er mich spielen.
Immer häufiger schickte er mich spielen. Schließlich bat er mich nicht mehr in die baufällige alte Garage neben dem Haus, die er sich als Werkstatt eingerichtet hatte.
Meine Tantchen hatten sich in der Zwischenzeit aneinander zu gewöhnen. Als Alezja mit vier Jahren endgültig dem elterlichen Schlafzimmer entwachsen war, steckte man sie zu ihrer großen Schwester, die zuvor mit mir ein Zimmer geteilt hatte. Ich bekam mein fürstliches Einzelzimmer, und Tatsiana bekam Platzangst. Die puppengleiche Alezja war stetig in die Breite gewachsen, glich mehr und mehr den derben ungarischen Bauers- und Schmiedeleuten, denen sie
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