Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
Vom Netzwerk:
noch bestimmter wiederzukehren. Vier Wochen. Vier Wochen lang war Großpapa wieder zehn Jahre alt. Schlief nicht. Aß nicht. Kannte kein Blut, keine Familie, nur Flammen, die flügge wurden. Dachte daran, ob er den Weg, den er vor zwölf Jahren gekommen war, auch zurück schaffen würde. Aber als die Panzer der Sowjets auf denselben Stellen standen, wo einst die deutschen gestanden hatten, und in die Menge feuerten, verstand er, daß er, mit seinem Leiden und seiner Rückenmarkentzündung, ein Überbleibsel der Flucht quer durch die Karpaten, nicht einmal mehr zum erschossenen Konterrevolutionär taugte. Nicht Imre Nagy hatte den Sozialismus verraten – der Sozialismus hatte ihn verraten. Großpapa begann den Geschmack an ihm zu verlieren.
    Umso mehr fand er jetzt Gefallen an Katjas Haar, das nach Beeren roch und nach frischer Butter und am Sonntag auch ein bißchen nach dem Versprechen allergrößter Lust. Fünfzehn Jahre war sie alt, die Großmama. Sie schien einem Kolchos-Plakat entlaufen, mit ihren niedlichen roten Locken und den hohen Wangenknochen. Sie plapperte Weißrussisch und Russisch und alles zugleich und durcheinander in ihrer Trasjanka, ihrer Viehfuttersprache, und wußte vom Ungarischen nicht mehr als: »Vatter tot und Mutter tot, will gutt Frau sein so wie sie«. An einem Tag im späten September ließ sichdie Großmama vom Großpapa in einen Winkel des Hauses ziehen, das sich wieder einmal satt trank an den Fluten aus dem Fluß; sie ließ sich das Versprechen abnehmen, der ach so tauben Stiefmama nichts davon zu verraten, wenn er sie in dieser Nacht in ihrem Zimmer besuchen käme. Und Katja, Großmama, die doch nur einmal einen Kuß hat drücken wollen auf den Mund eines ausgewachsenen Mannes, gleich ob der 19 oder 49 wäre, sagte fiebrig kichernd ja.
    Die fünfziger Jahre. Man hat geglaubt, die Erde sei eine Scheibe und das Leben werde schon immerzu weitergehen, Atombomben hin oder her. Man rückte näher zusammen im Wasser. Wer aber behauptet, der Mensch liebe innig, was innig mit ihm verbunden, könne es jedoch nicht ebenso innig begehren – der kennt nicht die menschlichen Leidenschaften.
    Und schon gar nicht die Potenz eines ungarischen Ausbesserers.
    Nach der Geburt meines Vaters wurde der Alte etwas ruhiger. Als wäre er einer Heimkehr zugehastet. Und vielleicht kehrte er nun auch heim, irgendwie, ins Land, gegen das sein eigener Vater noch gekämpft hatte. Kehrte heim als Vater. Als väterlicher Freund. Erinnerte sich seiner eigenen Erziehung, sprach seinem Nikalaj noch einmal davon, daß der Sozialismus eine Herzensangelegenheit oder nichts sei. Sprach und sprach und sprach, über Wochen und Monate und Jahre sprach er, und er vergaß darüber den Sohn, dem der Kopf schwirrte und der doch nichts anderes zu wollen schien, als Onkel Janka auf seinen Fahrten zu begleiten, um Devisen zu ernten wie andere Weizen und Kohl.
    Es begannen die Jahre, in denen wir uns in eine hartnäckige Ruhe duckten. Und uns zufriedengaben mit dem, was wir hatten. Die Zeit unserer ostdeutschen Gefriertruhen. Großpapa flüchtete sich unter die Kellertreppe zu seinem Schnaps,sachte, der Rückenmarkentzündung wegen, und er flüchtete sich in den Verschlag hinter der Fleischerwohnung und trank sich mit Rasou, der die besten Rauchwürste in der ganzen Sowjetunion machte, die Leber prall. Nur in die warmen Kissen der Großmama flüchtete er sich immer seltener.
    Die zwanzigjährige Kumpanei mit Rasou, dem Fleischer. Der ihn besser kannte als die eigene Frau. Vielleicht kannte auch ich ihn besser. By heart. In mancher Hinsicht bin ich Großpapas Kind. Das seinen Geschichten lauschte, Stunde um Stunde. Sie inwendig lernte und auswendig lernte. Und ihre Lücken mit dem Material seiner Phantasie füllte, wenn es einmal nicht mehr weiterkam.
    Und meine Tantchen? Zwar wurde ich einige Tage vor Tatsiana geboren, doch Mutter merkte erst sehr viel später als Großmama, daß sie schwanger war. Großpapa sollte es Vater irgendwie beibringen, daß sie bald einen Esser mehr im Haus hätten, daß er jetzt doch noch ein Geschwisterchen bekäme, kurz: Er solle sich einen Moment setzen, solange noch Platz sei, und dann hurtig mit seinem Onkel Janka losziehen, einen schönen neuen Stuhl aufzutreiben.
    Als Alezja sich zwei Jahre darauf ankündigte, zeigte Großpapa nur noch auf den Stuhl. Vater saß bereits.
    Und die Verkündigung Maryae war dann ohnehin Großmamas Aufgabe, so hinfällig war der Rote István mittlerweile geworden.
    »Der

Weitere Kostenlose Bücher