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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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heute anzutreffenden Zustand, wenn ich die Straße von der Busstation zu meinem Elternhaus gehe, und mir außer einem streunenden Kater und dem streunenden Wind, der den Geruch der Silage mit sich trägt, niemand begegnet. In amerikanischen Western würde Tumbleweed die Stille noch stiller machen. Bei uns genügt ein ferner Hammerschlag, und die Tatsache, daß man die Hand, die den Hammer führt, den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen wird.
    Hier steht der Weizen dicht. Die Halme tragen zwei, drei Ähren, sie wachsen auf so engem Raum, daß man nicht durch sie hindurchkommt und die Wachteln nicht auffliegen. Dashier war immer nur »das Land«. Eben nicht Moskau. Nicht einmal Minsk. Doch wenn sich Touristen, meist übergewichtige, verlebte Deutsche, die alles ganz genau wissen wollten, nach Hrodna verirrten, immer auf der Suche nach leibhaftigen Erinnerungen an ihren ersten Besuch, den sie uns in ihren schlammbedeckten Panzern abgestattet hatten, hörten wir den alten Ausdruck: »Der Westen«. Das hier ist der Westen Rußlands. Hier: westrussisches Gras. Hier: westrussische Tümpel. Hier: westrussische Hühner. Hier: der westrussische Mensch. Als ob irgend jemand ernsthaft Kenntnis davon hätte haben wollen, daß es einen Westen, einen Süden, einen Norden in einem solchen Land überhaupt gäbe. Der Westen Rußlands? Aber liegt das nicht eigentlich im Osten? Am Ende der Welt? Braucht das Ende der Welt etwa eine geographische Feingliederung?
    Hier steht der Weizen dicht. Nur selten backen wir Brot aus ihm, dafür ist der Durst der Männer zu groß. Allabendlich ziehen sie von einem Haus zum nächsten und sprechen sich die Lage des Landes schön. Und die Frauen freuen sich, daß das Haus männerfrei ist und treffen sich zum Durak spielen. Durak ist ein einfaches Kartenspiel, so einfach wie das Leben: Am Ende ist immer einer der Dumme und hat schlechte Karten. Oder überhaupt noch welche. Stundenlang spielen sie. Wenn die Männer nicht die Karten mitgenommen haben. Was sie gern tun, wie die Frauen feixen, um überhaupt etwas in der Hose zu haben.
    Gott schütze uns vor den Kleinstädtern! Sie haben kein Land, sie haben kein Leben, und sie haben auch keine Sprache. Ich mußte unsere, meine Sprache erst wie eine Fremdsprache erlernen. Es gibt Aufnahmen von mir auf einem uralten Tonbandgerät, das mein Vater einem Belgier, einem ebenso verirrten wie verwirrten Moskau-Transitreisenden, Ende der Siebziger Jahre abgejagt hatte. Eine Grundig Stenorette. Manhört durch das 10-Kilohertz-Rauschen den schleppenden, scheppernden, bäuerischen Akzent meiner Kindheit. Weil man mich im Magasin und in den Bäckereien in Minsk ausgelacht hatte, meine Trasjanka, die »Viehfuttersprache«, die nicht Russisch war und nicht Weißrussisch, und doch von beidem etwas, das Schlechteste von beidem, das, das bestenfalls für die Schweine taugte, meine Sprache, meine Zunge, eine Schweinezunge: Weil man mich, den Weißrussen, in meinem eigenen Land ausgelacht hatte, begann ich in der Internatszeit damit, sie mir abzutrainieren, meine bäuerische Schweinezunge, meine bestialische Schweinezunge, begann ich damit, mir die russische Hochsprache aufzutrainieren, wie früher die Oberschenkelmuskeln, daß sie die 200 Meter lange Strecke überstanden, ohne zu übersäuern, ohne hart zu werden, jeden Tag drei Stunden, drei Stunden weniger Akzent, drei Stunden weniger Schwein. Ich erlernte eine Muttersprache, die meine Mutter nicht sprach. Wie eine Fremdsprache erlernte ich, was man in Moskau und in Minsk zu unserer Muttersprache erklärt hatte. Und noch heute bin ich mir nicht sicher, in meinem Umgang mit den Herren Professoren aus Rußland, mit Akademikerzöglingen und denen aus der sogenannten besseren oder großstädtischen Gesellschaft. Ich stottere. Ich kehre zurück zu unvernünftigen Worten und Phrasen, zurück zu meinen Kleinstädtern, zu meinem stählernen, westlichen Blau.
    Und zu Großpapa. Die Flucht zu ihm war so einfach wie wirkungsvoll, wollte ich hin und wieder vergessen, was ich war.
    »Ein Volk von pfeilschießenden Reitern sollten wir sein«, sagte der Alte und strich sich über den schweißnassen Schädel, den er immer hatte, wenn er mal wieder von »daheim« sprach. »Gott schütze uns vor den Pfeilen der Ungarn!, haben die Europäer gebetet und dabei den Kopf eingezogen, sie wußten ja nicht, ob zufällig wieder einer über sie hinwegpfiff. UnserUnglück hat damit begonnen, daß wir seßhaft geworden sind. Wir haben den Wanderer in

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