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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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uns ausgetrieben, aber zu rasch, und nicht gründlich genug: Was wandern will in uns, muß nun Alkohol schlucken, Alkohol oder Tabletten. Und wenn es zu lange in uns rumort und immer noch keine Ruhe gibt, wenn es schwimmt und nicht ertrinkt, tötet es uns. Wandre, sauf oder stirb!, frotzelt der kleine Ungar, der durch meine Leber irrt. Und mich immerzu zwickt.«
    Und dann brachte er mir bei, was Ungarn und Russen gemein ist: das Fehlen des Wortes »haben«. Bei mir ist, sagen wir, bei mir ist eine ganze Flasche Wodka. Ja, jetzt, fragt sich nur, wie lange noch. Denn Wodka, Geld oder die Liebe: Sie müssen wandern, vom einen zum andern oder von der Kehle in die Blase, mit kurzem Umweg über den Schädel. Jetzt ist’s bei mir, dann ist’s bei dir, dann ist alles futsch. Mal verliert man, mal gewinnen die anderen. Die Russen, sagte der Großpapa, wüßten so gut wie die ungarischen Nomaden, daß alles in Bewegung sein müsse. Alles, was da geworden ist, ist vergänglich, ist nicht lange bei uns. Das kennzeichne unser Verhältnis zum Eigentum, sagte der Großpapa.
    Die Flucht zu ihm war so einfach wie wirkungsvoll, wollte ich hin und wieder vergessen, was ich war, wenn ich von den Hiesigen mal wieder als Nicht-Hiesiger beschimpft wurde, meist nach dem Lauftraining, wenn die anderen in ihren verschwitzten blauen Sportklamotten durch die Straßen schlenderten und sauer auf mich waren, weil der Ungar, der »rasende Zigeuner«, den Staffelstab hatte fallen lassen, aus Unachtsamkeit. Oder Übereifer.
    Gott schütze uns vor den Kleinstädtern! Wer in diese Welt hineingeboren ist und nur mit einem Haar zu wenig aufwächst, wer nicht quer in dieses Maul paßt, um ihm verabreicht zu werden, der wird sich nicht biegen. Der wird brechen.

Kapitän Nemo
    Plötzlich stand er vor mir mit seinen flachsblonden Haaren und der ein wenig zu ausladenden und zugleich zu kurzen Stoffhose, über den Knöcheln mit einer Kordel verschnürt, damit die Hosenbeine nicht schlackerten. Das Lauftraining hatte gerade begonnen, wir sollten ein paar Runden traben, und da ich die Schnürsenkel zuhause nicht richtig zugemacht hatte, wollte ich sie nachbinden. Ich kniete, und die Sonne, die ohnehin nicht wärmen wollte, verdunkelte sich. Blinzelnd sah ich auf.
    Stanislau war schlaksig, mindestens einen Kopf größer als ich. Ein zäher Langläufer mit Pferdelunge, obwohl man munkelte, er habe schon zu rauchen begonnen. Dabei war er gerade einmal dreizehn Jahre alt. Und ich zwölf.
    »Ja?« fragte ich, während ich langsam aufstand, Auge in Auge mit dem anderen, wie ein streunender Kater, der sein Revier verteidigte, jeden Moment den Angriff des Artgenossen erwartend.
    »Du weißt etwas vom Tümpel, oder?«
    »Vom Polentümpel?«
    »Sag nicht ›Polentümpel‹.«
    »Wie soll ich denn sonst sagen?«
    Wir hatten eine Geste unseres Trainers aufgefangen, einander umkreisende Zeigefinger, die dazu aufforderte, uns endlich zu bewegen, und so waren wir ins Traben gekommen.
    »Wie soll ich sonst dazu sagen, hä?«
    »Mir egal, nur nicht Polentümpel.«
    Nur nicht Polentümpel, so ein Quatsch! Alle sagten sie Polentümpel. Ein Tümpel, so tief, daß auf seinem Grund Höhlen sind, Höhlen mit Gängen, die man schwimmend durchqueren, durch die man auf die andere Seite, nach Polen gelangen kann.
    Im Krieg, erzählte Jefim Abramawitsch, habe man so Informationen über die Front geschmuggelt, hinter dem Rücken der Deutschen. Aber vielleicht hieß der Polentümpel auch Polentümpel, weil die Sowjets nach dem Krieg darin polnische Offiziere ersäuften, die noch immer nicht verstanden hatten, daß das mittlere Streichholz abgebrannt war und nun die Sowjets hier herrschten, und mit ihnen die russische Sprache.
    Wohl jeder Achtjährige hatte schon im Polentümpel getaucht, aber natürlich war jedem ziemlich schnell die Luft ausgegangen, und er hatte nach dem Auftauchen sein besonderes Abenteuer zu erzählen gehabt: einen Kampf mit Schlingpflanzen, oder den Ungeheuern der Tiefe, oder einfach nur mit dem aus Angst vor dem Ertrinken verrückt spielenden Darm.
    »Soll ich nicht Polentümpel sagen, weil du Pole bist?« Stanislau fiel hinter mich zurück, aus den Augenwinkeln sah ich, daß seine Lippen zuckten.
    »Ich bin kein Pole. Ich bin Weißrusse.«
    »Mein Großpapa sagt, ihr seid Polen. Katholische Konterrevolutionäre. Wahrscheinlich seid ihr Faschisten.«
    Ich spürte, wie etwas mein nach hinten auspendelndes rechtes Bein mit Schwung nach links beförderte. Es verhakte

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