Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
sich hinter dem anderen und ich fiel mit dem Gesicht auf die Grasbahn.
»Du nennst uns nicht Faschisten!« brüllte Stanislau und kniete schon auf mir, mit einem Arm wandte er einen Polizeigriff an, mit dem anderen zog er mich am Haar.
»Dein Großvater ist ein KGB-Spitzel, das weiß doch jeder. Und ein geiler Bock und Zigeuner dazu. Und du bist auch nicht besser, du lümmelst doch immer nur mit deinen Tanten rum!«
Stanislau preßte mein Gesicht auf den Boden. Das Gras roch nach Scheiße. Es war unmöglich, etwas gegen ihn zu unternehmen, er war zu schwer und saß so geschickt auf mir, daß ich ihn nicht boxen konnte. Und ihn mit der freien Hand zu kratzen verbot mein Jungenstolz. Meine Nase begann zu bluten, dann spürte ich, wie das Gewicht auf meinem Rücken leichter wurde und eine Hand nach der meinen griff. Kaum war ich aufgestanden und hatte mir haftengebliebene Halme aus dem Haar und vom Trainingsanzug gestreift, spürte ich, wie dieselbe Hand mein Ohrläppchen zog. Jefim Abramawitsch schleppte Stanislau und mich im Klammergriff zum Ausgang. Die anderen lachten, lachten über uns beide. »Da schlägt sich das Pack!« riefen sie.
Jefim Abramawitsch ließ in seinem Griff nicht nach, im Gegenteil, je mehr wir jammerten, desto fester zog er. Ich spürte, wie sich mir einer seiner Fingernägel ins Fleisch bohrte.
»Rachmones«, schimpfte er, »so eine Schande! Gerade ihr beiden solltet doch zusammenhalten!«
Das Training war für heute beendet. Jefim Abramawitsch schüttelte den Kopf, als er hinter uns das Tor zum Sportgelände verriegelte. Dann scheuchte er uns mit ausladenden Wischbewegungen seiner großen Hände davon wie lästige Fliegen. Vom Grasplatz hörte ich noch immer das Feixen der anderen.
Stanislau und ich hatten den gleichen Heimweg, aber natürlich gingen wir auf verschiedenen Seiten der Straße, er rechts, ich links. Ich sah, wie er immer wieder nach Birkenreisern, die am Straßenrand lagen, griff, und sie, vor sich hinbrabbelnd und dabei hin und wieder auch einen Fluch ausstoßend, zwischen den Fingern zerbrach. Von fern war dasDröhnen einer Propellermaschine zu hören. Der Wind trug den Geruch von Bärlauch mit sich.
»Dabei wollte ich doch nur wissen, ob du mal im Tümpel getaucht hast.«
Die Ansprache kam unerwartet. Ich beobachtete ihn über die Straße hinweg.
»Ob du was gesehen hast.«
Ich schwieg.
»Vielleicht eine kleine Höhle oder sowas.«
Ich schwieg. Stanislau wurde immer leiser.
»Die anderen muß ich ja gar nicht fragen. Die bereiten sich für die Komsomol vor und reden über sowas nicht mit mir.«
Ich blieb stehen.
»Du willst tauchen?« fragte ich, während zwischen uns Staub vom Pflaster aufstieg, den ein vorbeifahrender LKW aufgewirbelt hatte, »rübertauchen nach Polen?«
»Hör bloß mit Polen auf!« schimpfte Stanislau und blieb jetzt ebenfalls stehen.
»Gut. Aber tauchen willst du. Weil … weil: Ich will auch tauchen.«
Diesmal schnitt uns ein roter Moskwitsch Stimme, Gehör und Blickkontakt ab.
»Komm zu mir rüber, ich hör dich nicht«, rief Stanislau. Vor unseren Augen kreuzten zwei MTS-Schlepper den Weg, die Traktoristen begrüßten einander durch Handzeichen.
»Komm du doch«, rief ich.
»Nein.«
»Doppelnein.«
»Dann treffen wir uns morgen am Tümpel.«
»Um drei.«
»Um vier.«
»Also um fünf.«Schon als Jefim Abramawitsch uns vom Polentümpel mit seinen Unterwassergängen erzählt hatte, beschloß ich, eines Tages als erster die Durchquerung zu wagen. Dann wäre ich nicht nur der rasende Zigeuner, wie mich die anderen Kinder nannten, sondern auch der beste Taucher weit und breit.
Natürlich war mir bewußt, daß es dazu einiger Planung bedurfte, ich wollte ja nicht so blöd sein, mit bloßer Atemluft runterzugehen, um ebenso erbärmlich zu scheitern wie Generationen von Hiesigen zuvor. Also fragte ich Großpapa um Rat.
»Nur mal angenommen, man müßte lange tauchen. Wie macht man das?«
»Lange üben.«
»Nein, ich meine: Wenn man tauchen müßte mit Geräten und so.«
»Geräte, oho! Laß mal sehen. Na, da brauchst du erst einmal viel Luft, ist ja klar. Und etwas wegen dem Druck. Und vernünftige Klamotten, weil es arschkalt wird im Wasser …«
Undundund. Ich schrieb so fleißig mit, als würden mich diese Notizen wie von selbst auf die andere Seite tragen.
Als ich mich mit Stanislau am Polentümpel traf, konnte ich bereits mit meiner Liste glänzen. Und einer Zeichnung, die zeigte, wie man auf die andere Seite käme. Sie war
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