Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Internatsbibliothek bestand nur aus geprüfter sozialistischer Fachliteratur. Doch Trafim fand immer Mittel und Wege, durch seinen Vater Bücher oder Gedichtabschriften aufzutreiben. Wo einer allein nicht weiterkam, weil die Verse nicht übersetzt und die Sprachen unbekannt waren, hat der andere ausgeholfen. Oder sich vielleicht auch nur ausgedacht, was da stand. Apollinaire. Artaud. Balmont. Barbey. Blok. Camus. Char. Chodassewitsch. Cortázar. De Quincey. Huysmans. Ghelderode. Hoffmann. Jarry. Jerofejew. Jessenin. Kafka. Lautréamont. Lorca. Mallarmé. Mandelstam. Rodenbach. Sade. Sartre. Sologub. Swinburne. Thomas. Trakl. Unamuno. Ungaretti. Villiers. Wolfe. Zwetajewa.
Von den vierteljährlichen Beurteilungen des Erziehungskollektivs war abhängig, ob die Zeit, die nach Internatsordnung bis zum ersten Heimfahrwochenende vergehen sollte, verkürzt wurde oder nicht. Mein erstes Gutachten war verheerend. Es bescheinigte mir einen »merkwürdigen Mangel an moralischenEinsichten«, eine »Gefühlskälte bei hohen psychischen Energiemengen«, auch eine »Neigung zu impulsiven Entschlüssen und irrationalen Handlungen« (dabei hatte ich in dieser Zeit auch nicht einen internatseigenen Gegenstand zerstört). Von Disziplinierungsverweigerung ganz zu schweigen. Ich war ein permanenter Fall für den Strafdienst. Und blieb noch eines und noch eines, und noch ein weiteres Wochenende in Minsk, in meiner Verbannung, die mir längst zu einer freiwilligen geworden war, denn ich hätte, wenn schon, dann als Rächer heimkehren wollen, oder als Renegat. Doch soweit war ich noch nicht, ich war noch immer bei: »… und weinte bitterlich.«
Bis unser Zimmerältester eines Tages nicht mehr aus dem Alkoholkoma erwachte und uns Sergej zugeteilt wurde. Sergej war ein vierschrötiger rotblonder Fiesling, der mit seinen kaum achtzehn Jahren eine Glatze bekam und sich den Rest seines Haars im Armeestil schor. Als ich ihn das erste Mal dabei beobachtete, dachte ich an die behaarte Wurst auf meinem Generalfeuermeisterorden. Auf seine Frage, wie er aussehe, antwortete ich ehrlich. Ein Schubser von Sergej genügte, ich landete in meinem Spind, nicht ohne zuvor noch übers Bett gefallen zu sein.
»Die haben mir schon gesagt, daß du Ärger machst«, zischte er, »aber nicht mehr lang, darauf wette ich.«
»Topp«, sagte ich, mich aufrappelnd, und fing mir umgehend den zweiten Stoß ein.
Sergej hatte zahlreiche Aufsichtspositionen im Haus. Wahrscheinlich war er so eine Art Kader- oder Verbindungsmann des Internatskollektivs, einer dieser Bauernlümmel, die sich mit der nötigen Gewissenlosigkeit und Brutalität nach oben andienen und es in jeder Gesellschaft zu etwas bringen. Seltener zum Schlafwagenschaffner oder Lauftrainer. Häufiger zum Polizisten. Die Statur dafür hatte er bereits.
Sergej wurde mein ständiger Begleiter, mein Schatten, mein Zwilling, wir waren Kastor und Pollux beim Fischhallendienst, er oben, ich unten, er überwachte mich, er kontrollierte mich, er schob und schubste mich zur Arbeit, sein Unterarm drückte mir am Spind die Kehle zu, zweimal mußte Trafim ihn anflehen, mich loszulassen, ich sei schon ganz blau angelaufen. Aber die Wette würde ich gewinnen.
Eines Samstagnachmittags schien es soweit. Sergej mußte meinetwegen das ganze Wochenende im Internat zubringen, wir waren so ziemlich die einzigen, die zurückgeblieben waren. Plötzlich gab er seine Dienstwache auf. Er steckte sich eine der Zigaretten, die für gewöhnlich hinter seinen Ohren angewachsen waren, zwischen die aufgeplatzten Lippen, und zog ab Richtung Hintertreppe. Ich fühlte, daß ich gewonnen hatte, und so schickte ich ihm eine ebenso derbe wie effektvolle Verwünschung auf Weißrussisch hinterher, die ich Rasou, dem Fleischer, abgehört hatte, wenn der mal wieder seine Rasowa aus dem Keller befördern wollte. Sergej stutzte, dann warf er die Zigarette weg und rannte wie ein wilder Stier auf mich zu. Mir war klar, daß ich zwar gewinnen, die Siegestrophäe aber nur noch mein Grab zieren würde. Ich zog meinen Antritt an, den langen Gang im zweiten Stock hinab, vorbei an den Bilder der Parteigrößen, über braune und weiße Bodenkacheln hinweg gewann ich einen deutlichen Vorsprung, das Geklapper von Sergejs Halbstiefeln wurde immer leiser. Dann wandte ich mich nach rechts, elegant wie ein Kurvenläufer, die 200 Meter hatte ich einfach im Blut, aber das stellte sich als Fehler heraus, dort war keine Tür mehr, nur noch die Wand, und ich verfluchte
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