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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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anrief, was sich als schwierig herausstellte, noch immer war es aus technischenGründen kaum möglich, eine Verbindung nach Belarus zu erhalten, muß mein Weißrussisch so fremd geklungen haben, daß man vorzeitig auflegte. Oder die Verbindung wurde irgendwo in den Waldkarpaten unterbrochen. Erst beim vierten Anruf gelang es mir, darum zu bitten, daß man Tatsiana oder Alezja herbeiholte. Nach dem siebten Anruf hatte ich Tanja endlich am Hörer, war ich fragmentarisch unterrichtet. Ich sagte:
    »Ja, ich komme. Weiß noch nicht genau, wann, aber ich komme so schnell wie möglich.«
    Wieder hatte ein Knacksen die Leitung unterbrochen, ich konnte davon ausgehen, daß sie nicht mehr gehört hatte als: »Ja, ich komme.«
    Was im Grunde das war, was ich am wenigsten sagen wollte. Ich kann hier nicht so leicht weg. Ich muß mir einen Zug heraussuchen. Ich weiß nicht. Ich weiß nichts. Was soll ich bei euch? Das zu sagen riet mir mein Stolz. Riet mir mein Trotz. Doch meine Intuition hatte mir geraten, Budapest zu verlassen. Schließlich hielt mich hier nichts mehr. Stolz und Trotz und Intuition rangen miteinander. Ergebnislos. Am Ende entschied die Telefongesellschaft.
    Ich sagte, ich würde kommen, und Tanja hörte: Ich werde kommen. Tanja, die am Telefon so flehentlich meinen Namen gesagt hatte, und ich hatte meinen Namen so lange nicht mehr flehentlich ausgesprochen gehört, meinen Namen, meinen eigentlichen Namen, Wasja, nicht Wasil, oder, wie die Ungarn mich nannten, »Waschi«, allen voran Gábor, der so sprachbegabt wie ein Zackelschaf war. So lange hatte ich diesen Namen aus diesem Mund nicht mehr gehört, und so lange nicht mehr mit dieser Stimme gesprochen, die heiser, atemlos, erregt klang, daß ich dem Ostbahnhof zustrebte, kaum hatte ich aufgelegt, oder vielmehr: kaum war ich unterbrochen worden,und einen Platz für den übernächsten Tag im übernächsten Zug nach Warschau reservierte.
    Warschau. Brest. Minsk. Hrodna. Dann mit dem Bus weiter. Ich würde unterwegs gehörig Zeit haben, mich auf meine Rückkehr vorzubereiten.
    Drei Jahre waren vergangen. Seit drei Jahren hatte ich nichts mehr von Weißrußland in den Nachrichten gehört. Erst jetzt sprachen die europäischen Fernsehsender davon, daß die Präsidentschaftswahl in die Stichwahl geht. Dann kommt vielleicht ein Populist an die Regierung, der versuchen wird, uns wieder ins Haus des großen Bruders einzumieten. Back in the USSR! Würde ich überhaupt wählen dürfen? Schließlich hatte ich mich jahrelang im Ausland aufgehalten. Aber ich hätte auch nicht wählen wollen, so lange hatte mich das Ausland von allem ab- und ferngehalten. Was hatte ich noch zu tun mit dem ganzen Sowjetkram? Drei Jahre.
    »Wenn das Leben nur aus dieser Mühsal besteht, dann ist das kein Leben«, soll Großmama gesagt haben. Dann lehnte sie sich in ihren Sessel zurück und gab ihrem Herzanfall nach. Ob sie das wirklich so gesagt hatte, wagte ich zu bezweifeln. Großmama sprach nicht mehr viel. Sicher war für mich nur, daß sie in frischer Unterwäsche von uns gegangen war. Schon immer hatte sie darauf bestanden, frisch gestriegelt ins Auto zu steigen, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Frische Unterwäsche, falls man in ein Hospital transportiert würde, frische Oberbekleidung, um für den Sarg bereitet zu sein, und frischgeputzte Schuhe, falls es Teppiche im Paradies gab. Sie hielt uns dazu an, es ihr gleich zu tun. Bei mir hat sie nicht mehr erreicht, als daß ich in Budapest wochenlang in einen Unterhosenstreik trat.
    Meine Toten.
    Meine Toten. Meine Toten. Auf der langen Zugfahrt in mein altes Leben habe ich all meine Toten zusammengesucht. Großpapa, den ich in Budapest zurückgelassen hatte, Großmama, Vater, Mutter, Nadja 1, Jadwiha, Nadja 2. Die einen sind gestorben und die anderen sind’s auch. Die einen mit dem Kopf voran gegen einen Baum. Eins geworden mit ihrem Auto. Die anderen haben sich so oft gehäutet in ihren fünfundzwanzig Jahren, daß ich ihnen nicht mehr als denselben Menschen begegne. In meiner Erinnerung sind sie längst gestorben. Mit dem Kopf voran gegen unsere gemeinsame Jugend. Uneins mit unseren gemeinsamen Erlebnissen.
    Nadja 1. Meine große Liebe der dritten Klasse. Längst tot. Motorradunfall. Unmittelbar nachdem sie den Führerschein bekommen hatte. Exitus noch an der Unfallstelle. Die grünen Augen, die’s mir angetan hatten, ein unvergleichliches Smaragdgrün: die hatten’s abbekommen. Das Gesicht eine einzige Schnittwunde,

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