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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Auswahl aus dem Landesspektrum. Außer wenn die Landflucht hier so weiter geht, dann ist Budapest wahrscheinlich die erste europäische Hauptstadt, die das ganze Land ist . Wenn sich die Stadt nicht vorher kollektiv umbringt, Amis, Aussis und Deutsche eingeschlossen.«
    »Mhm. Du magst die Menschen nicht, oder?«
    »Ich mag die Menschen, doch, ich mag die Menschen. Mein bester Freund ist einer. Leider ist er schon ziemlich lange weg, kann mich kaum mehr an ihn erinnern.«
    »Mhm. Und was studierst du so?«
    »Möchtest du hören, was die Ungarn mit den Juden gemacht haben, Kleines?«
    Die Deutsche warf den Schrägkopf mit einem Mal bedenklich gegen die andere Seite hin und verabschiedete sich wortlos auf die Tanzfläche. Zurück blieb ein Geruch von frisch geschlagenem Buchenholz und Himbeeren.
    Ich wußte, daß Gábor einem riskanten Geschmack zuneigte, aber daß jetzt auch hochgradig Magersüchtige darunterfielen? Bei den tanzähnlichen Verrenkungen, die ich ihm von meinem stillen Hochsitz abtrotzte, wurde ich das Gefühl nicht los, daß dieses Wesen mit seiner Dauerhungerkur seitdem dreizehnten Lebensjahr beschäftigt war. Mit einer Dauerhungerkur, und sonst nichts. Ich dachte an den Kick, den die Magersucht bieten soll. Ein deutsches Phänomen? War das Deutschland? Synchronautowäsche jeden Samstag von 15:30 bis 17:15 Uhr, dazu die Fußballergebnisse aus dem Radio, das war das Deutschlandbild, das mir das ungarische Fernsehen vermittelt hatte. Und jetzt Generationenmagersucht? War das etwa auch Kollektivschuld?
    Gábor klopfte mir herzhaft auf den Rücken, seine rotgeäderten Augen verrieten, daß er die erste Welle des Stoffs hinter sich hatte.
    »Worüber habt ihr euch unterhalten?«
    »Unterhalten? Was meinst du denn damit?«
    »Was denkst du, wiegt so eine halbe Portion?« fragte er, »ist die kostengünstig im Unterhalt? Oder macht sich das gar nicht bezahlt?«
    »Ich würde mich eher fragen, ob sie ihren Kalorienrechner immer bei sich hat. Oder ob der Vater schuld ist oder doch die Mutter. Vernachlässigung oder Mißbrauch? Womöglich das Westfernsehen?«
    Gábor schwieg. Offensichtlich war er zu breit, um etwas Überraschendes zu erwidern.
    »Wie hast du sie eigentlich kennengelernt?«
    »Beim Schach.«
    »Die kann Schach spielen?«
    »Spielen nicht direkt. Ich hatte mal wieder Kundschaft, Kiwis, glaube ich, jedenfalls total besoffen und dauernd auf der Verliererstraße. Von Minute zu Minute ist die Stimmung beschissener geworden, bis ich mein Brett eingeklappt und erklärt habe, daß ich für heute wegen der Schupo schließe. Und plötzlich haben diese wildgewordenen Typen begonnen, mich niederzuknüppeln.«
    »Und was hast du getan?«
    »Bin niedergeknüppelt worden.«
    »Gratuliere.«
    »Und sie hat mich gefunden und aufgelesen.«
    »Und verarztet? Du Glücksschwein! Und? Hast du sie schon gevögelt?«
    »Nicht in dem Sinne.«
    »Aber in jedem anderen, was?«
    Zwischen dem Beginn und dem Ende eines langen Atemzugs stieß Gábor ein fast unhörbares Meckern der Zufriedenheit aus. Jetzt erst fiel mir ein rotes Mal auf, das er am Hals trug. Die kleine Vampirin!
    Ich trank. Das Bier schäumte. Schäumte über. Beschäumte mich ganz und gar. Ich machte Anstrengungen, es von meiner Lederhose zu wischen, und befleckte mich, ganz und gar. Gábor schob mir sein holländisches Gesöff als Nachschub hin. Ich wußte, er würde jetzt nicht mehr viel trinken, nur noch einen oder zwei kiffen, sonst bekäme er nachher keinen mehr hoch.
    »Und jetzt gehst du mit ihr nach Deutschland?«
    »Die Chancen stehen gut.«
    Gábor steckte sich eine Zigarette an, blies mir den Rauch direkt in die Nase.
    »Mal Europa sehen«, sagte er, »das wäre schön.«
    »Warte noch ein bißchen, dann kommt Europa hierher.«
    Gábor, die halb erloschene Kippe schief im Mund, hob wie beschwörend beide Hände, dann die Arme, drehte sich nach rechts weg.
    »Scheiße, wie oft hab ich das schon gehört. ›Wir waren lange genug Sibirien und die Mongolei, jetzt wollen wir wieder Paris sein und London.‹ Ich seh’s nicht, Alter, ich seh’s nicht.«
    »Ich schon, Alter, ich seh’s, ganz deutlich.«
    »Ach was, wir bekommen hier doch nur die Abfälle des Kapitalismus zu sehen. Man muß dorthin gehen, wo er sich so richtig suhlt. Ich meine: Du lebst doch auch nur von der Schacherei deines Vaters, aber ich – «
    »Aber du vögelst nicht mit einer Deutschen. Gábor, das hättest du im Sozialismus auch schon haben können.«
    Als wäre sie

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