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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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eine Fleischmaske, die Augäpfel wie chirurgisch entfernt. Und ich hatte es kein einziges Mal geschafft, mich in diesen Augen zu spiegeln. Oder wenn, dann nur aus nichtigem Anlaß.
    Und meine große Liebe der sechsten Klasse. Nadja 2. Auch tot. Tot oder Cellistin, die Meinungen gingen auseinander. Tatsiana behauptete, ihr wenige Wochen vor meiner Rückkehr in Hrodna begegnet zu sein, Alezja hielt dagegen, allerdings schon schwer alkoholisiert, ihr vor einem Jahr ein Schäufelchen Erde ins Grab mitgegeben zu haben. Ich erinnere mich an unsere letzte Begegnung, unmittelbar, bevor ich nach Minsk abgeschoben wurde. Vom Fahrrad herunter rief sie mit sarkastischem Tonfall:
    »Hab’s schon gehört, da bringen sie dir hoffentlich Manieren bei!«
    Wie ich mich schämte. Wie ich mich schäme, für dieseZicke geschwärmt zu haben. Tot. Womöglich Cellistin. Womöglich beides.
    Es war nicht anders als sonst: niemand holte mich von der Busstation ab. Nur der Weg nach Hause hatte sich verändert, die Straßen waren noch leerer, wahrscheinlich konnten sich meine Kleinstädter nicht einmal mehr das Tumbleweed leisten. Den Gemischtwarenladen gab es nicht mehr. Wo die Auslage des Magasins war, prangten jetzt Wahlplakate, die einen auf Weißrussisch, die anderen auf Russisch, man mußte nicht auf den Namen des Kandidaten oder den der Partei sehen, schon die Sprache sagte, wer wofür stand.
    Vor unserem Haus klaffte ein Loch, jemand hatte begonnen, neue Rohre zu verlegen und war darüber in Dornröschenschlaf gefallen. Die Garagen standen nicht mehr, Großpapas Elektroschrott lag auf einen großen Haufen gestapelt. Wahrscheinlich hätte ich sogar jetzt noch die Chance gehabt, Vaters Geld zu finden. Und wenn nicht ich, vielleicht ein Bauarbeiter. Dann wären die Rohre nie unter die Erde gekommen.
    In der Wohnung roch es derart nach Weihrauch, daß ich, kaum hatte ich den Koffer abgestellt, ein Fenster öffnen wollte. Sie standen bereits offen. Alle. An den Wänden hingen unzählige Plastikkreuze, Plastikweihwasserbecken, Pater-Pio-Gedenktafeln, ein mobiler Altar, eine aus einer Zeitschrift geschnittene und notdürftig gerahmte Schwarz-Weiß-Kopie des Abendmahls von da Vinci, Judas mit niedlichem Igelgesichtchen. Im Keller stapelten sich die Umzugskartons, schwarzer Schimmel an den Unterseiten. Wahllos öffnete ich zwei von ihnen, ein Geruch nach muffiger Wäsche, vermischt mit einer Herznote Urin. Der eine enthielt Großpapas, der andere Vaters Habseligkeiten. Ein Aufbahrungsort. Das ganze Haus war zum Aufbahrungsort geworden.
    Die Beerdigung hatte am Tag zuvor stattgefunden, man habe nicht warten können, bis ich käme, die Hitze sei zu groß gewesen. Sagte Tatsiana. Sie umarmte mich gegen meinen Willen, mit Tränen in den Augen. Ich ließ es geschehen. Ihr Haar, streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, changierte zwischen dunklem Braun in der Nähe der Kopfhaut und Kupferrot an den Spitzen. Es roch nach Leder, nach Mandarinen und Ambra. Sachte strich ich über ihren Zopf hinweg, er fühlte sich stark an, stark und wie ein Katarakt fließend, meine Finger drohten in Tanjas Haarspitzen zu versinken.
    Marya hielt sich an ihre älteste Schwester, versteckte sich hinter ihr, sie sagte kein Wort, sah mich nicht an, ich war ein Fremder für sie. Tanja sprach lange auf sie ein, aber sie ließ sich nicht dazu überreden, mir ein Wort zu schenken. Vielleicht verstand sie mich auch nicht. Ich sprach Russisch. Mir war, als hätte ich in Ungarn das Weißrussische endgültig verlernt.
    Wir trafen Alezja an Großmamas Grab. Das auch das von Großpapa hätte sein sollen. Aber es war ja leer. Ich wußte, daß er nicht mehr da war; ich hatte ihn nach Budapest mitgenommen, und er bat mich, ihn nicht zurückzubringen. Es war während unserer gemeinsamen Nachtwache im Treppenhaus, als ich ihn das letzte Mal sah. Er hatte sich neben mich gesetzt, beide starrten wir in Richtung des Fensters, wo wir Buda liegen sahen, das waidwunde Tier. Ich hoffte auf den Morgen, der vielleicht die Erlösung von meinen Schmerzen brächte, und Großpapa erklärte, daß er mit der Dämmerung für immer verschwinden werde.
    »Hör mit der Suche nach mir auf«, sagte er, bevor ich an Ort und Stelle einschlief, dann, Stunden später, vom Hausverwalter gefunden und ins Bett gebracht wurde.
    »Laß mich hier. Und hör mit deiner aussichtslosen Suche auf.«Das gemeinsame Grab, das kein Gemeinsam kannte, es nie kennen würde. Nicht einmal, wenn man die Überreste

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