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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Krümel erledigt, ja? Soll ich dir Nachschub holen?«
    Ich holte zu einer Ohrfeige aus.
    »Schlag zu, ja, schlag doch, du weißt ja, wie es geht, du weißt, wie es sich anfühlt. Na komm, schlag mich. Schlag mich, wie du mich fickst: verflucht scheiße, Wasja, du – fickst – verflucht – scheiße.«
    Ich stand auf, wandte mich zum Gehen. Erst jetzt fiel mir auf, daß ich meine Schuhe auf dem Zimmer vergessen hatte.
    »Barfuß, nicht quatschen und nicht zuschlagen können! Was bist du bloß für ein Kerl?«
    Tanja. Ich weiß nicht, wann ich aufgehört hatte zu lieben.
    Oder wann diese Liebe an den Umständen oder sich selbst erstickt war. Eine Seele, die sich geliebt weiß, selbst aber nicht liebt, verrät ihren Bodensatz: ihr Unterstes kehrt sich hervor. Es fehlte die Unschuld. Unser beider Unschuld. Ich konnte Tanja nicht mehr in den Arm nehmen, konnte sie nicht an mich ziehen, jede Bewegung stockte mir. Die vielen Verwundungen machten mich bewegungsunfähig. Sommer, Herbst, Winter, Frühling. Was war ich bloß für ein Kerl? Einer, der lieber tötet als sich zu töten. Oder etwas in sich zu töten. Sommer, Herbst, Winter, Frühling. Stanislaus Zettel auf meinem Fußboden.
    Die Ideologie ist das Immunsystem, das die Gesellschaft vor internen und externen Bedrohungen schützt. Der Herr Präsident
    Auf der Windschutzscheibe: die Aufschläge von weichgepanzerten Insektenkörpern. Man sieht kaum etwas von ihnen, einen feuchten grünen Streifen, Spritzer, schon vorbei. Aber gehört hat man sie, das Prasseln, das Knacken. Ein Insekt um das andere prallt am Scheinwerferglas ab und wird wie ein Tischtennisball nach oben geschleudert. Auf der Strecke von Minsk nach Hrodna, auf der Strecke von Hrodna nach Minsk.
    Das Jahr 2001 bescherte uns eine unerträgliche Schwüle und Präsidentschaftswahlen. Ich begann, mich für Musik des 16. Jahrhunderts zu begeistern und verlor mein Geld. Fast alles. Es geschah über Nacht. Hotels und Fahrten hatten sich längstnicht mehr durch die Zinsen decken lassen, ich war an den Grundbestand meiner finanziellen Existenz gegangen. Und idiotischerweise hatte ich auf die Banker gehört, die mit hoher Dividende an den Aktienmärkten lockten. Diese neurotischen Prozacfresser in ihren Armani-Repro-Anzügen waren die miesesten Zocker, die ich je kennengelernt habe.
    »Mir ist lausig zumute, Gaspadin, ich würde mich am liebsten aufhängen«, sagte mir einer in seinem arroganten Moskauer Russisch.
    »Dann such dir schon mal einen schönen Baum aus«, antwortete ich auf Weißrussisch. Ein Satz, der mir von Großpapa geblieben war.
    Ich verkaufte mein Auto. Es war mittlerweile das vierte. (Mein letzter Unfall war ein wirtschaftlicher Totalschaden, er hatte sich ohne mein Zutun auf einem Parkplatz zugetragen, als ein besoffener ukrainischer Transporterfahrer Gas und Bremse verwechselt hatte. Zum Glück mehrfach. Auch als er gerade türmen wollte.) Ich verzichtete auf die Zugfahrten. Wer etwas von mir wollte, mußte zu mir nach Minsk kommen. Im Falle von Tatsiana lag die Frequenz bei einmal im Vierteljahr, bei Alezja beträchtlich höher.
    Um einigermaßen über die Runden zu kommen, gab ich das Studium auf und suchte Arbeit bei einer Zeitung. Ich hatte Glück und kam als Kulturredakteur unter. Das gesamte Ressort war kurz zuvor unter dem Druck der Regierung entlassen worden, angeblich hatte es eine nationalistische Politik verfolgt. Die Handlung des Stücks, das dann gespielt wurde, war hinlänglich bekannt: zuerst wurden die Statisten entlassen, dann die Schauspieler mitsamt dem Regisseur, alle Rollen wurden neubesetzt, und am Ende hatte im Theater keiner was zu lachen, am wenigsten die Zuschauer, für die das Ganze ja auch nicht inszeniert wurde.
    Ich schrieb über Ballettaufführungen, die so harmlos waren, daß sie schon in den 50er Jahren des vorletzten Jahrhunderts zum Gähnen eingeladen hätten. Ich schrieb über Konzerte, klassisch, über Konzerte, Rock/Pop, über Harmonika- und Balalaika-Gruppen.
    Der neue Ressortleiter hieß Bublik. Er war ein Duzfreund des Herrn Präsidenten. Ein kleiner, fetter, schwitzender Mittvierziger mit Hasenscharte. Seine Stimme klang schmierig, knödelig, als wäre ihm irgendwann etwas in der Kehle stekkengeblieben, und die Laute bildeten sich nun drumherum. Er beanspruchte die Kontrolle über jeden Vorgang, ließ uns regelmäßig vor- und antanzen, wenn etwas in den Artikeln nicht stimmte. Bei mir stimmte es häufig nicht. Und ich war wohl auch zu selten in den

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