Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
Vom Netzwerk:
es Beharrungsvermögen? Nein. Wenn es etwas nicht war, dann das. Nicht bei mir, nicht bei meiner Ungeduld. Ich baute tatsächlich darauf, daß sich etwas an der Situation ändern würde, hoffte zumindest darauf, Alezja würde des Spiels überdrüssig werden, würde einen ganz normalen Freund finden. Ich selbst sah mich längst außerstande, etwas zu ändern. Nicht nur, weil sie mich in der Hand hatte. Eine ménage à trois ist Arbeit. Und zu einem nicht geringen Teil bloße Handarbeit. Diese Arbeit frißt alle Ressourcen. Die seelischen allemal.
    Ich brachte das Auto am Straßenrand zum Stehen. Ich bremste so scharf, daß es Rollsplitt nach allen Seiten hagelte, dicke Körner schlugen im Unterboden ein. Dann stützte ich mich am Lenkrad ab. Weiter vorn am Straßenrand waren zwei Krähen damit beschäftigt, den Kadaver eines überfahrenen Hasen auszunehmen.
    Tatsiana hielt meinen Kopf in beiden Händen, versuchte, ihn zu sich zu drehen, sie wollte mir in die Augen blicken. Und platzte plötzlich heraus: Sie habe Verständnis dafür, wenn ich dem eine normale Beziehung vorziehen würde.
    Tatsiana und ihr Verständnis.
    Dann kamen die Schmerzen wieder. Meine linke Gesichtshälfte fühlte sich an wie taub.
    »Was ist denn, Wasja?«
    Ich stieß sie weg, konnte die Berührung nicht länger ertragen.
    »Laß mich dir doch helfen.«
    Wieder suchte eine ihrer Hände meinen Kopf, ich ergriff sie, preßte zu, bis Tanja aufschrie.
    »Helfen? Wie denn helfen ? Was denn helfen ?«
    Ich ließ los, rückte noch weiter von ihr ab, so nah wie möglich der Fahrertür zu. Ich hämmerte mit meinem Kopf gegen die Scheibe, hatte keine Lust, wie ein Schwerkranker von ihr behandelt zu werden. Bis ich aus dem Gröbsten raus wäre.
    »Helfen. Das hättest du gern. Am liebsten wär’s dir, wenn ich im Rollstuhl sitzen würde, oder? Dann könntest du rundum helfen und dich gut fühlen dabei. Verschwende dich nicht. Spar dir deine wundervoll beschissene Opferbereitschaft für später auf, wir werden sie noch brauchen.«
    Ich hatte Tanja nichts entgegenzusetzen, noch nie. Keine Hochherzigkeit. Kein Heldentum. Es gab nichts mehr zu beschönigen: Die Waagschalen senkten sich auf meiner Seite. Mein Verrat wog schwerer als der ihre.
    Im Hotel versuchten wir, miteinander zu schlafen. Es gelang uns nicht. Nichts gelang uns. Wir lagen nackt nebeneinander, Tanja rauchte hastig, den Aschenbecher auf der Brust. Sie stellte ihn mit einem Scheppern auf dem Boden ab, legte sich zurück in ihr Kissen und starrte an die Decke. Dort oben müßten unsere Blicke einander begegnen.
    »Wovon träumst du, Wasja?«
    »Du meinst, wenn ich schlafe?«
    »Wenn du wach bist. Wovon träumst du?«
    Ich überlegte. Es muß so lange gedauert haben, daß ich hörte, wie Tanja zu einem neuen Satz ausholte, als ich endlich etwas sagen konnte.
    »Schwer zu sagen. Wovon träume ich? Laufen. Ich würde gern mal wieder laufen. Barfuß. Über das Gras. Über die Wiesen. Die Hecken entlang laufen. Mir ein Loch in den Boden graben und meinen Antritt trainieren.«
    Tatsiana wandte sich mir zu, lehnte sich auf den Ellenbogen, blickte mich an.
    »Minsk ist so staubig. Das Gras ist schwarz vor Staub, weiß vor Staub. Da kann ich nicht laufen. Ich schmecke den Staub auf der Zunge, er knirscht mir zwischen den Zähnen, morgens, wenn ich aufwache, hab ich noch immer den Staub der nächtlichen Straße zwischen den Zähnen. Meine Zähne sind ganz abgeschliffen vom Staub und vom Knirschen.«
    Ich schwieg. Ich roch Tanjas Zigarettenatem, der mir um die Nase wehte.
    »Schwer zu sagen, Tanja.«
    »Ja, schwer zu sagen, Wasja.«
    Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich eine große Träne unter ihren Wimpern sammelte. Sie nickte unablässig.
    »Mehr willst du nicht?« fragte sie, zwischen zwei Schluchzern, »mehr nicht?«
    Noch am nächsten Morgen fuhren wir zurück. Es war so früh, daß außer uns niemand auf der Straße war, und so kalt, daß die Autoabgase Kondensstreifen bildeten, sie hielten sich lange, ich sah sie im Rückspiegel.
    Wir hatten vergessen zu frühstücken. Tanja saß auf dem Beifahrersitz, hin und wieder liefen ihr Tränen über die Wange, die ganze Fahrt über hielt ich, hielt sie meine rechte Hand auf ihrem linken Knie. Ich lenkte einhändig, ich schaltete einhändig.
    »Ich sollte mich nicht verschwenden. Du hast so unfaßbar recht. Und ich hab so unfaßbar Angst, du könntest recht behalten«, sagte sie.
    Dann übersah ich die Stop-Stelle. Ein russischer Kleinwagen krachte

Weitere Kostenlose Bücher