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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Fernsehuhr beschäftigt.
    Ich hielt durch bis halb eins, erklärte, noch einmal raus zu müssen, setzte mich in mein Auto. Die Scheiben waren dick vereist, ließen kein Licht herein, die Innenbeleuchtung hielt eine Minute durch, dann flackerte sie und ging aus. Zu allem Überfluß würde ich morgen auch noch die Batterie aufladen müssen. Ich nahm eine der Migränetabletten aus der Notreserve des Handschuhfachs, zerbiß sie, kaute sie gut durch. Sie schmecktenach Kölnischwasser. Ich schob Notreserve-Traubenzucker hinterher. Wieder Kölnischwasser. Stoffe, die wohl kaum darauf gewartet hatten, in meinem Handschuhfach vereinigt zu werden. Ich wartete eine halbe Stunde, die Blitze schon vor dem inneren Auge, und Großpapa wollte und wollte sich kein Stelldichein geben. Ich hätte ihn nach all den Jahren gern wieder einmal gesehen. Aber wahrscheinlich war er böse mit mir. Große Revolutionäre pimpern, ja, aber doch nicht ihre Tanten.
    Dann übergab ich mich neben den Wagen. Ich schlief ein. Übergab mich wieder. Schlief wieder ein. Hätte mich Tanja nicht irgendwann aus dem Auto gezogen, mir eine Decke übergeworfen und mich ins Leben zurückgerieben, vermutlich wäre ich in der Silvesternacht erfroren. Was wäre uns alles erspart geblieben!
    Mein dritter Unfall ereignete sich auf der Neujahrsfahrt, nicht mehr weit von Zuhause.
    Zur Belohnung für meine Geduld wollte Tanja mit mir zwei Tage wegfahren. Nur wir beide, sie und ich. Alezja bliebe bei Marya (die arme Kleine!). Ich weiß nicht, was sie ihnen erzählt hatte. Je weniger ich wußte, desto weniger würden wir uns in Widersprüche verwickeln. Wir fuhren in Richtung der litauischen Grenze.
    Ich war meiner Lebensretterin erstaunlich wenig dankbar. Erstaunlich, ja, ich verlangte von mir selbst mehr Dankbarkeit. Vielleicht auch mehr Zuneigung. Es wollte sich keine Freude einstellen über die gemeinsamen Tage. Es begann schon damit, daß sich Tanja über meinen Reibeisenbart beschwerte, ob ich nicht irgendwann einmal wieder vorhätte, mich zu rasieren. Ich wußte nicht, wovon sie sprach.
    »Wundschubbern«, sagte sie, »ich bekomme noch Ausschlag von deinen Bartstoppeln.«
    »Kann ich mir nicht vorstellen, so selten wie dein Gesicht an meinem schubbert.«
    »Machst du jetzt mir daraus einen Vorwurf?«
    Ich schwieg. Die Befremdung zwischen uns drohte umzuschlagen in Entfremdung. Tanja war zu klug, wie hätte sie nicht merken können, daß hinter meinem Verhalten eine andere Frau steckte?! Aber auf den Gedanken, daß es ihre Schwester sein könnte, wäre sie wohl, trotz der Auftritte der vergangenen Tage, nicht verfallen. Und ich mußte alles daran setzen, daß sie es auch nie tun würde. Irgendeine Andere hätte sie mir verziehen, wahrscheinlich hätte sie noch nicht einmal verlangt, daß ich die Affäre beende, wenn sie mir nur gut tue. Tatsianas Großmut schien unermeßlich. Aber die eigene Schwester, noch dazu diese, das wäre selbst für jemand wie sie unverzeihlich gewesen.
    Wir fuhren, wir hielten, wir fuhren, wir hielten. Sie habe ja Verständnis dafür, daß ich an den Wochenenden ausbliebe, wenn ich an meiner Arbeit schreiben müsse, aber sie habe den Eindruck, daß sie einfach nicht mehr an mich herankomme. Und dann hatten wir seit Wochen nicht mehr miteinander geschlafen. Dahinter könne doch nur eine andere Frau stecken. Was ok sei, ich solle es nur sagen. Damit sie Bescheid wisse. Ich schwieg, ich wiegelte ab, ich wiegelte ab, ich wiegelte ab. Ich erklärte dies, ich erklärte das, ich erklärte alles. Lügen, oft genug wiederholt, gewinnen an erlebter Wahrheit.
    »Aber wieso läßt du mich dann nicht mehr an dich heran. Du läßt mich nie an dich heran.«
    Ich saß mit abgewandtem Gesicht, preßte den Hinterkopf mal stärker, mal weniger stark gegen die Kopfstütze.
    »Wird sich das jemals ändern, Wasja?«
    »Das fragst du den Schrecken ohne Ende. Wie soll’s denn für dich weitergehen?«Wir wußten beide, daß unsere Situation nur haltbar war, wenn sich etwas veränderte, wenn wir uns auf eine gemeinsame Zukunft vertrösten konnten. Glaubten wir wirklich daran, eine so lange Zeit hindurch? Wir mußten. Wir sprachen uns alle bekannten zeitlichen Wundheilungen zu: Wenn ich meine Arbeit geschrieben haben würde, wenn Alezja endlich ausgezogen, wenn Marya aus dem Gröbsten raus sein würde. (Aber was war das Gröbste bei einem Kind, das von seiner Mutter zu hören bekommen hatte, daß es eine Kannibalin sei und dann mit sechs Jahren Vollwaise wurde?)
    War

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