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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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wie Maryas Augen plötzlich auf mir ruhten.
    »Warum willst du mit der Schule aufhören, Manja?«
    »Weil ich nicht gut bin.«
    »Wie kommt’s? Ich meine: du bist klug – «
    (Beinahe hätte ich hinzugefügt: »… und schön!«)
    »Bin ich das?«
    »Komm schon, das weißt du.«
    Marya schwieg. Sie wurde unsicher und unruhig, drängte aus meinem Arm.
    »Ich hab mich gelangweilt. Ich hab während des Unterrichts Gedichte gelesen. Meine Lehrer haben mir gesagt, ich sei faul oder dämlich oder beides. Meine Klassenkameraden haben es auch gesagt, und sie haben es mich spüren lassen.«
    »Und Tanja?«
    »Meine Entscheidung. Sie respektiert sie.«
    Wir nahmen den Weg wieder auf.
    »Verpasse ich etwas, wenn ich nicht auf die Uni gehe?« »Ich weiß nicht. Vielleicht. Wenn man so studiert wie Stanislau: Ja. Wenn man so studiert wie ich: Nein.«
    »Wie hast du denn studiert?«
    »Gar nicht. In Minsk hab ich gar nicht mehr studiert. In Budapest schon.«
    »Erzähl mir davon.«
    »Von der Uni?«
    »Von Budapest.«
    Ich erzählte Marya von Gábor und seinen Joints, die er in ominösen Plastikbeuteln aufbewahrte, auf denen unter dem Hoheitszeichen der Freibeuter »ABC-Probe« stand (des Frischhalte- wie Abschreckeffekts wegen); erzählte von meiner den Marktgesetzen angepaßten Wohnung, von Großpapas Besuchen, von meinen Träumen, per Zeppelin eine riesige Betonplatte zu transportieren und sie, wenn der internationale Kapitalismus mal wieder eine Zusammenkunft dort abhielte, über dem »Vierjahreszeiten« abzukoppeln. Ich erzählte vom Jánoshegy und von Turul, dem Adler des Stammesgottes Isten, wie er mit kräftigem Flügelschlag die Reiterscharen der Ungarn westwärts trieb, immer westwärts, die großen dunklen Pferde. Dann schwieg ich abrupt.
    »Das klingt schön.«
    »Schön ja, toll nein.«
    Wieder fokussierte sie mich, stellte ihre Trennschärfe
    ein.
    »Ja«, sagte ich, um die Irritation nicht noch mehr zu steigern, »es ist eine schöne Stadt. Aber wer mag schon Städte, die schöner sind als man selbst?«
    »Nimmst du mich mit, wenn du das nächste Mal hinfährst?«
    »Ich glaube nicht, daß das geht.«
    »Warum nicht?«
    »Ich hab kein Geld mehr. Und Ungarn ist jetzt in der EU.
    Allein die Visa würden ein Vermögen kosten. Ob legal oder illegal.«
    Wir waren bei der Busstation angekommen. Ich sagte »kézicsókolom«, küßte Marya, so formvollendet, wie es mir möglich war, die Hand. Sie umarmte mich zum Abschied und flüsterte mir ins Ohr:
    »Ich glaube, du würdest das hinkriegen mit den Visa. Wenn es einer hinkriegt, dann du, Wasja.«
    Vor dem Wartehäuschen tauchte plötzlich eine Katze auf. Sie sah mich. Erschrak. Sie fauchte. Ich fauchte.
    Ich schlich herum wie ein Kater.

Der kündende Morgenvogel
    Zwei Tage vergingen, dann traf ein Brief von Marya ein. Er enthielt eine Buchbestellung, überwiegend französische Autoren. Ich mußte ihr versprechen, sie mitzubringen, wenn ich das nächste Mal nach Hause käme. Ich mußte ihr versprechen, bald, ganz bald wieder einmal nach Hause zu kommen.
    Seit meiner Rückkehr aus Budapest hatte ich das Lesen fast aufgegeben. Nun suchte ich die alten Bücher hervor, begann, in ihnen zu blättern, begann, in ihnen zu lesen. Ich betrachtete die Sätze als das, was sie waren: Sätze, die Marya in Bälde lesen würde. Sätze, die uns über räumliche und zeitliche Distanz miteinander verbanden. Sätze, die einen Bund zwischen uns schlossen.
    Ich betrank mich.
    Dann schrieb ich zurück. Es war ein kurzer Brief.
    Treppab, treppab, treppab, schrieb ich. Unten sind sie damit beschäftigt, den massigen Körper anzuwuchten. Zu dritt. Rasou, der Fleischer, faßt unter den Schultern an. Vater und Onkel Janka greifen nach je einem Bein. Es riecht nach Aprikosenschnaps. » Jetzt! « heißt das Kommando, und alle heben an.
    Ich schob ein Buch in den Umschlag. Dann würde Marya nicht darauf warten müssen, bis ich nach Hause käme. Ich wußte nicht wann, ich wußte nicht, ob ich überhaupt noch einmal nach Hause kommen würde.
    Wenige Tage später folgte ihr zweiter Brief. Sie teilte mir ihre Leseeindrücke mit. Und bat mich, mehr von Großpapa zu erzählen. Von Großmama. Von Vater. Von mir. Und von Budapest. Sie richtete mir Grüße aus. Zuerst dachte ich: Grüße von Großpapa. Aber dann las ich: von Ali.
    Um Himmelswillen, Manja, schrieb ich zurück, sag Lesja nicht, daß und wie wir uns getroffen haben, sag ihr nicht, daß wir uns schreiben, sag ihr keine Grüße von mir zurück. Und

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