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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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der des rechten nach oben gezogen war. Ein mildes Raubtier. Kein wildes.
    »Weißt du, was das mit ›Ali‹ eigentlich soll?« fragte ich nach einer Pause. Sie zuckte mit den Schultern.
    »Wahrscheinlich wollte sie so schlank sein wie Ally McBeal. Und so taff.«
    »Ally McBeal?«
    »Oh Gott, wie alt bist du, Wasja? 100?«
    »150, um genauer zu sein. Ich bin die Wiedergeburt von Arthur Rimbaud.«
    Manja prustete los:
    »Wahnsinn. Ich möchte mit dir schlafen.«
    Ich schluckte.
    »Das möchtest du nicht, Manja.«
    Ich schluckte.
    »Glaub mir, das möchtest du nicht.«
    Es war eine schlaflose Nacht, die ich verbrachte. Wie fast alle Nächte, die ich nach meiner Rückkehr aus Ungarn in diesem Haus verbracht hatte. Ich wünschte mir ein Buch herbei, um sie durchwachen zu können, aber ich hatte nichts mitgenommen,nicht einmal eine Zahnbürste. Und was sich ansonsten an Literatur in diesem Haus befand, war in Maryas Schlafzimmer.
    Ich wußte, daß Lesja im Laufe des Tages aufkreuzen würde, mußte vermeiden, ihr zu begegnen, und so schlug ich Manja vor, einen Spaziergang zu machen. Ich sollte Stanislau erst nachmittags auf dem Bahnhof in Hrodna treffen.
    Marya lenkte unseren Weg zu den Familiengräbern. Wahrscheinlich ist das ein menschheitlicher Urinstinkt: Familienmitglieder suchen zusammen ihre Ahnen auf, daran führt kein Weg vorbei. Das Grab meiner Eltern war wild überwachsen, Marya begann, hier und da Unkraut und Efeu zu zupfen, aber sie sah nach wenigen Handgriffen ein, daß das nicht genügen würde. Umso mehr überraschte mich Großmamas Doppelgrab, auf das jemand sehr viel Pflege verwandt hatte. Wahrscheinlich war es Marya. Wahrscheinlich war es noch immer das schlechte Gewissen gegen die Mamuschka. Marya, die Nierenkosterin.
    »Schön«, sagte ich, »schönschön. Für Großpapa vielleicht ein bißchen viele Blümchen, außer roten Nelken hat er das Gewächs nicht ausstehen können. Aber es wird ihn nicht sehr stören, er ist ja gar nicht mehr da.«
    Marya fokussierte mich. Ihre Augen bekamen einen fiebrigen Glanz. Als ich ihr sagen wollte, daß ich lediglich einen Scherz gemacht hatte, zog sie mich an den Armen weiter, aus dem Friedhofstor hinaus, dem Schlittenhügel zu. Sie hatte unseren Schritt so sehr beschleunigt, daß von Spazierengehen nicht mehr die Rede sein konnte.
    »Brrrr, meine jungen dunklen Pferde«, feixte ich, »wo willst du denn hin, Manja?«
    Sie ging noch einige Schritte weiter, dann stellte sie sich mit verschränkten Armen hin. Sie fröstelte. Die rechte Hand rieb beständig den linken Oberarm.
    »Ich weiß auch, daß er nicht da ist.«
    »Wer?«
    »Der Rote Stepan. Dein Großpapa.«
    »Weil?«
    »Weil er mir ein paarmal begegnet ist.«
    »Wo?«
    »Hier.«
    Ich versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen.
    »Und wie war er, Manja?«
    »Nüchtern.«
    »Dann war er es nicht.«
    »Nein, ich meine: sehr sachlich. Er hat mir einfach nur Ratschläge gegeben.«
    »Zum Beispiel? Wie man einen Elektromotor repariert?«
    »Nein. Wie man es aushält, einsam zu sein.«
    »Aber du warst doch nicht allein. Tanja war doch immer da.«
    »Ich habe ›einsam‹ gesagt, nicht ›allein‹.«
    »Und dann hat ausgerechnet er dir geraten, symbolistische Dichter zu lesen?«
    Marya hielt in ihrem Warmreiben inne. Sie nahm ihren Schritt wieder auf, weiter in Richtung Schlittenhügel.
    »Nur weil ich erst 16 bin, heißt das nicht, daß ich dämlich bin, ok?«
    Ich holte sie ein, legte ihr den Arm um die Schulter.
    »Ok, Manja. Ich hab’s nicht so gemeint. Ich versuche nur herauszufinden, ob das wirklich Großpapa gewesen sein kann. Wann, sagst du, hat das begonnen?«
    »Mit Mamuschkas Tod.«
    Mit Großmamas Tod. Hatte ich den Alten gar nicht in Budapest gelassen, sondern hierher mitgebracht, hier zu ihr? Oder hatte sich einfach nur meine Beklopptheit auf dieses Kind übertragen?
    »Ich weiß, das klingt dämlich«, sagte Marya, sie hatte sich bei mir untergehakt. Ich wiegelte ab.
    »Doch, das klingt dämlich, deshalb hab ich auch niemandem davon erzählt. Aber es war einfach so – normal, verstehst du? Ich meine: er war da, er hat mit mir gesprochen, so wie du mit mir sprichst.«
    »Hat er dich dabei angesehen?«
    »Nein. Angesehen hat er mich nie.«
    »Mich auch nicht.«
    Wir hatten die Hügelkuppe erreicht. Ich wußte, ich müßte Marya nichts erklären. Wir standen und sahen in die Weite, noch immer Arm in Arm. Es war dieselbe Blickrichtung, in der ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Dann spürte ich,

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